Wie umgehen mit 'schwerwiegenden Einwänden'?

von Dennis Wittrock

Im soziokratischen Umfeld kommt beim Entscheidungsverfahren oftmals die Frage auf, woran man eigentlich „schwerwiegende Einwände“ erkennt und wie ein Moderator damit umgehen soll. Wann sind sie berechtigt? Wie kann verhindert werden, dass dieses Argument willkürlich verwendet wird, um persönliche Befindlichkeiten durchzusetzen?


Kriterien der Einwandsprüfung in Holacracy

Eine wichtige Evolution, die Holacracy meiner Meinung nach zum soziokratisch inspirierten Konsentverfahren hinzugefügt hat, besteht in den vier Kriterien zur Prüfung von Einwänden, die während der integrativen Entscheidungsfindung in Governance-Meetings eingesetzt wird. 


Damit sich ein vages Bedenken als "Einwand" im Sinne der Holacracy Verfassung qualifiziert, (und integriert werden muss) muss das Bedenken allen der folgenden Kriterien genügen (Art. 5.3.2 Anforderungen an Einwände):


a. Der Vorschlag würde die Fähigkeit des Kreises verringern, seinen Sinn und Zweck oder seine Verantwortlichkeiten auszudrücken.
b. Der Vorschlag würde die Fähigkeit des*der Einwendenden einschränken, den Sinn und Zweck oder eine Verantwortlichkeit einer Rolle zu erfüllen, die der*die Einwendende im Kreis vertritt, selbst wenn der*die Einwendende keine anderen Rollen in der Organisation ausüben würde.
c. Das Bedenken existiert nicht schon vorher, selbst in Abwesenheit des Vorschlags. Somit würde spezifisch durch die Annahme des Vorschlags eine neue Spannung erzeugt werden.
d. Der Vorschlag würde die Wirkung zwangsläufig verursachen, oder, falls er die Wirkung verursachen könnte, hätte der Kreis keine angemessene Möglichkeit anzupassen, bevor bedeutender Schaden entstehen könnte.


Polfragen als Spiegel für den Bedenkentragenden

In Holacracy nutzen wir Polfragen, um diese Kriterien zu ermitteln (siehe die Governance Moderationskarte zum Download hier). 


Eine Polfrage besteht aus zwei Aussagen, den zwei Polen, mit einem ODER in der Mitte. Ist es eher das eine ODER eher das andere?


Fällt die Antwort auf einen bestimmten der beiden Pole, dann geht es weiter zum nächsten Kriterium (auf der Moderationskarte unten jeweils auf den Pol auf der linken Seite). Andernfalls verfehlt das Bedenken die Schwelle, um (nach holakratischer Definiton) zum "Einwand" zu werden. 


Somit sagt uns der Bedenkenträger als Sensor (direkt oder indirekt) *selbst*, ob sein Bedenken an dieser Stelle integriert werden muss, oder nicht. 


Somit ist auch der Moderator kein Richter, sondern der Sensor des Bedenkens erforscht (mithilfe der Testfragen), ob sein Bedenken sich als "Einwand" (im holakratischen Sinne) qualifiziert, oder nicht. Er blickt in den Spiegel des Prozesses und gibt sich selbst die Antwort. 

Governance Testfragen



Die Frage, ob ein Bedenken "schwerwiegend" ist, stellt sich in Holacracy lediglich als "Subfrage" des vierten Kriteriums (d), bzw. "K4, und auch nur dann, wenn der Schaden nach Einschätzung des Sensors "möglicherweise" eintreten "könnte".


Wir prüfen das ab mit der Frage, ob die Person denkt, dass der Vorschlag bei Annahme "bedeutenden Schaden" verursachen würde, ODER ob es sicher genug ist, es erst mal damit zu versuchen, wissend, dass die Entscheidung später jederzeit revidierbar ist, sobald sich der Schaden zeigt.


Weil diese (Sub-)Frage so ein "Killer-Kriterium" ist, das so viele Bedenken abräumt, ist sie nicht inflationär zu gebrauchen. Mehr dazu in diesem Blog-Artikel

„Die ‚sicher genug, um es zu probieren‘- Falle“.


Ein Filter für rein subjektive Befindlichkeiten

Eine "Blockade", bzw. eine "Einwandsorgie" basierend auf rein subjektiven Befindlichkeiten wird in Holacracy durch das Kriterium (b) verhindert. Die Person muss erklären, wie der Vorschlag eine ihrer Rollen behindert, die sie in dem Kreis ausfüllt und wie. Kann sie das nicht, so konstituiert ihr Bedenken keinen Einwand im holakratischen Sinne. Damit ist der persönlichen Willkür ein klarer Riegel vorgeschoben.


In Holacracy sind die Rollen, in denen wir arbeiten, ein Ausfluss aus dem Sinn und Zweck der Organisation. Sie sind somit daran angebunden. Wenn wir aus Rollen sprechen, so sprechen wir als Sensoren der Organisation.


Wenn wir hingegen nicht aus unserer Rolle einen Einwand geltend machen wollen, sondern aus unserer Person sprechen, so verhalten wir uns übergriffig gegenüber dem Sinn und Zweck der Organisation. Wir wollen der Organisation unseren Willen aufzwingen.


Holacracy ist ein Versuch, die Arbeit der Organisation zu strukturieren, nicht der Versuch, eine Gemeinschaft von Menschen zu organisieren. Das unterscheidet sie m.E. von der Soziokratie, die einen anderen Anspruch hat. 


Beide Ansprüche sind legitim. Man sollte sie nur nicht vermischen, da man sonst Übergriffigkeiten von Mensch auf Organisation oder von Organisation auf Mensch erzeugt. 

--- 
Erstmals veröffentlicht auf dem Xpreneurs Blog von Dennis Wittrock am 08. Juli 2024



Dennis zu Gast im "gfo weekly" über sein Buch "Holacracy verstehen"
Licht und Schatten von Holacracy im Dialog