“In einer gewöhnlichen Organisation verrichten die meisten Menschen einen zweiten Job, für den niemand sie bezahlt. In großen und kleinen Firmen [...] verwenden die meisten Menschen ihre Zeit und Energie darauf, ihre Schwächen zu verbergen, den Eindruck, den andere von ihnen haben zu managen, sich selber von ihrer vorteilhaftesten Seite zu zeigen, politische Spielchen zu spielen, ihre Unvollkommenheiten zu verstecken, ihre Unsicherheiten zu verstecken, ihre Limitierungen zu verstecken. Sich zu verstecken.”
Robert Kegan & Lisa Lahey
Deliberately Developmental Organizations (DDOs)
In dem Buch “An Everyone Culture – Becoming a Deliberately Developmental Organization” beschreiben Robert Kegan und Lisa Lahey inspirierende Beispiele von Firmen, deren Mitarbeiter sich gemeinsam auf den Weg einer absichtsvollen Entwicklungspraxis gemacht haben. In diesen Firmen wird verstanden, dass Arbeit ein generativer Kontext ist, in welchem man mit seinen Entwicklungsthemen konfrontiert wird – ob man nun möchte oder nicht. Anstatt das zu ignorieren oder davor wegzulaufen, haben DDOs einen Weg gefunden, diese Art von Spannungen in Wasser auf die Mühlen der inneren Entwicklung umzuwandeln und eine Kultur der absichtsvollen Entwicklungspraxis zu etablieren.
Neue Arbeitsformen brauchen die Arbeit am Inneren
Wann immer Organisationen sich in Entwicklungsprozesse und Transformationen begeben (z.B. Selbst-Management, wie Holacracy) stoßen sie damit – bewusst oder unbewusst – auch individuelle und kollektive Entwicklungsprozesse an. Eine grundlegende Veränderung der Strukturen, Prozesse und Erwartungen innerhalb der Organisation geht nicht spurlos an den Menschen vorbei, sondern, wie Joana Breidenbach und Bettina Rollow knackig in einem Buchtitel zusammenfassen: “New Work needs Inner Work” - neue Arbeitsformen brauchen die Arbeit am Inneren. Auf einem Bein steht es sich schlecht.
Spannungen in den vier Räumen differenzieren lernen
Doch das Innere und das Äußere haben jeweils auch eine individuelle und eine kollektive Dimension, weshalb sich das Modell der vier Räume (insbesondere im Kontext der Holacracy Praxis) zunehmender Beliebtheit erfreut.
Alle vier Räume sind als Kontexte immer gleichzeitig im Spiel, denn es gibt niemals ein Innen ohne ein Außen und auch keinen Einzelnen ohne die Vielen – ob man das nun bewusst mit einbezieht, oder nicht.
Ansätze wie Holacracy zielen darauf ab, sogenannte “Spannungen” für die Organisation zu lösen. Eine “Spannung” bezeichnet die gefühlte Lücke zwischen einem Ist- und eine Soll-Zustand. Wird sie geschlossen, so ist die Spannung gelöst und die Organisation ist ihrem Sinn und Zweck ein Stückchen näher gekommen.
Doch Spannungen treten nicht nur im Raum der Organisation (blau) auf, sondern auch für den, bzw. die Menschen (orange) - entweder als individuelle psychologische Themen oder in Form zwischenmenschlichen Themen, die dann auf Dauer die kulturelle Dimension prägen.
Einige unser Grundannahmen
- Wir gehen davon aus, dass die Fähigkeit, Spannungen in diesen vier Räumen zu differenzieren und jeweils auf gesonderte Weise zu adressieren, ein Erfolgsfaktor für das Gelingen von Selbstmanagement ist (insbesondere die Differenzierung von Rolle und Mensch, bzw. Organisation und Mensch).
- Die Differenzierung dieser Kontexte ermöglicht Entwicklung und auch umgekehrt: Entwicklung ermöglicht die genauere Differenzierung dieser Kontexte.
- Zunehmende Differenzierung ermöglicht und erfordert adaptive Entwicklung.
- Adaptive Entwicklung ist nicht dasselbe wie die Entwicklung neuer Fähigkeiten, sondern erfordert eine grundlegende Wandlung des Selbst- und Weltverständnisses des Individuums.
- Die Entwicklung neuer Fähigkeiten ist “horizontal”, während adaptive Entwicklung “vertikal” in Richtung größerer Komplexität verläuft.
- Individuelle Entwicklung kann nicht von außen durch die Organisation verordnet werden, noch sollte sie es.
- Die meisten Menschen sind “im Grunde gut” und sie streben inhärent danach, sich weiter zu entwickeln, wenn sie die Möglichkeit dafür bekommen.
- Die Organisation kann nur den Rahmen für eine absichtsvolle Entwicklungspraxis bereitstellen.
- Ein solcher Rahmen beinhaltet zB eine konsequent gelebte Praxis der “gewaltfreien Kommunikation” (nach Marshall Rosenberg) und peer-begleitete Selbstreflexion, für die es gut erforsche, mehr oder auch weniger strukturierte Ansätze gibt
- Jeder Mensch hat das Recht, frei zu entscheiden, ob er an absichtsvoller Entwicklungspraxis teilnehmen möchte, oder nicht. Zwang und Druck von außen sind kontraproduktiv.
- Für absichtsvolle Entwicklungspraxis ist psychologische Sicherheit eine entscheidende Vorbedingung. Psychologische Sicherheit entsteht durch Zulassen von Verletzlichkeit und wird durch verbreitete Praktiken wie Performance Reviews, selbst mit populären Ansätzen wie 360 Grad Feedbacks ins Gegenteil gekippt.
- Eigentümer, Inhaber, bzw. ehemalige Führungskräfte sollten hierbei mit gutem Beispiel vorangehen (“walk the talk”).
- Ebenso wie individuelle Entwicklung, kann man eine bestimmte Unternehmenskultur nicht “machen” oder verordnen. Das führt nur zu “Change-Theater”.
Beispiele für konkrete Praktiken
Vorweg: man kann zwar versuchen, einige der folgenden Praktiken zu kopieren, doch wenn das zugehörige Mind-Set und die zugehörige Kultur fehlen, und nicht in allen vier Räumen verankert sind, ist der Effekt dieser Praktiken als “Intervention” wahrscheinlich wenig nachhaltig.
Der Immunity to Change (ITC) Prozess
Was ist “das eine große Ding”, das, wenn du es lösen könntest, dazu führen würde, dass du in deiner aktuellen Rolle effektiver wärest? Gibt es ein Selbstentwicklungsziel, das du bereits versucht hast zu erreichen, aber an dem du gescheitert bist? Wenn du diese Fragen beantworten kannst, hast du den Startpunkt für deinen ITC Prozess definiert.
Im nächsten Schritt schaust du dir aufrichtig an, was du anstelle dessen tust (das Gegenteil davon). Danach fragst du dich, welche Sorgen und Bedenken kommen, wenn du daran denkst, dein ursprüngliches Ziel direkt anzugehen. Diese Sorgen und Bedenken verraten dir, welche anderen konkurrierenden Commitments du ebenfalls hast, die dazu führen, dass du zwar mit einem Fuß auf dem Gaspedal, mit dem anderen aber auf der Bremse stehst. Dadurch machst du dir das “Immunsystem” deiner Psyche bewusst.
Im letzten Schritt machst du dir schließlich die “Big Assumptions”, die großen, unhinterfragten Hintergrund-Annahmen bewusst, auf denen dein mentales Immunsystem fußt. Hier geht es darum, sich kleine Experimente zu überlegen, mit denen man seine großen, oftmals stark generalisierenden Annahmen, empirisch überprüfen kann. Manchmal sind sie wahr, aber oft fallen sie in sich zusammen, wodurch du automatisch den anderen Fuss von der Bremse nimmst und sich dein Widerstand gegen Veränderung auflöst.
Diesen Prozess kann man individuell durchlaufen, aber an vielen Stellen ist es empfehlenswert, wenn man seine Kolleg*innen um ihre Perspektive bitten kann. Eine Übungsgruppe ist förderlich. Auch das Wissen, dass nicht ich alleine an meinem Entwicklungsthema knabbere, sondern dass auch andere mit ähnlichen Widerständen kämpfen, schafft einen Raum für Verletzlichkeit, Vertrauen und Verbindung.
Association Meeting
Ein Association Meeting ist ein Raum, in dem Menschen - außerhalb ihrer Rollen in der Firma - zusammenkommen, um gemeinsam auf erlebte Situationen der Zusammenarbeit zu schauen, z.B. Missverständnisse, Konflikte, Irritationen, aber auch schöne, bewegende gemeinsame Momente. Eine Moderation ist wünschenswert aber nicht zwingend nötig. Es findet regelmäßig statt (z.B. alle 2 Wochen) und dauert etwa eine Stunde. Diese Regelmäßigkeit bewirkt, dass Themen an die Oberfläche kommen und bearbeitet werden können, bevor sich chronische negative Muster entwickeln – einfach weil man den Raum dafür bereitstellt.
Der Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation hilft, das Gespräch zu strukturieren und führt zu mehr gegenseitigem Verständnis und Verbundenheit. Die zentralen Elemente sind:
- Beobachtung: alle beteiligten Seiten beschreiben die erlebte Situation, ohne jede Interpretation, (z.B.: „zu den letzten drei Meetings kamst du zu spät und unvorbereitet” statt „du bist unzuverlässig!”).
- Gefühl: Dann werden damit verbundene Emotionen erspürt benannt („Das frustriert und irritiert mich”).
- Bedürfnis: Die Gefühle werden dadurch ausgelöst oder verstärkt, dass Bedürfnisse nicht ausreichend erfüllt sind („denn ich brauche es, gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten und verbinde damit Wertschätzung meiner Ideen, Arbeit und Zeit”).
- Bitte: Wenn das Bedürfnis klar erkannt ist, kann daraus eine Bitte um eine konkrete Handlung formuliert werden („bitte versuche beim nächsten Meeting, pünktlich zu sein und meine Dokumente wenigstens kurz überflogen zu haben - oder verschiebe das Meeting rechtzeitig, wenn dir das nicht gelingt!”).