Dies ist ein Erfahrungsbericht über das Holacracy Online Praxis Training im November 2021 von Dr. Martina Schuegraf.
Tag 1: Check-In – Sich Einfühlen
Für mich ist es die erste tiefergehende Berührung mit Holakratie sowohl in der Theorie, aber vor allem auch in der Praxis. In der ersten Check-In- und Kennenlern-Runde ist es spannend zu hören, mit welchen unterschiedlichen Erwartungen wir Teilnehmenden ins Training kommen. Die einleitende Frage lautet dazu: „Wie bist du hier und welche Spannungen haben dich hergebracht?“ Im Training werden wir noch lernen, welche grundlegende Bedeutung „Spannungen“ in der Holakratie haben und wie darauf das Miteinander aufbaut. Unsere Motive bzw. Motivationen für die Teilnahme am Training reichen von einer kritischen Grundhaltung der Holakratie insgesamt gegenüber über einen Umgang mit Reibungsverlusten in Teams lernen; mit Umsetzungsherausforderungen umgehen; Moderieren und die Methode lernen; Unsicherheiten verlieren; Vorurteile besser erkennen; Praxiserfahrungen erlangen; Souveränität gewinnen; in die tägliche Arbeit integrieren; von Anfang an etablieren; Fragen und Spannungen bearbeiten; Kulturschock von klassischen Hierarchien zu Holakratie bis zu Freude auf Neues; Einblicke bekommen, um es richtig leben zu können; sich nichts mehr anderes vorstellen können und Begeisterung mit anderen teilen; Strukturveränderungen und Selbstführung sichtbar machen und nach außen tragen sowie die Freude, endlich in die Praxis einzusteigen und Nachhaltigkeit zu entwickeln.
Wir lernen am ersten Tag, dass Holakratie – anders als andere Ansätze – eine besondere Macht- und Befugnisstruktur herstellt, welche auf der Verfassung beruht. Anders ist auch, dass Holakratie regel- und nicht prinzipienbasiert funktioniert, d.h. es gibt klare Regeln, an die sich alle halten und welche Strukturen der Sicherheit und Verantwortlichkeit aufbauen. Hierdurch erfolgt eine formale Übergabe der Macht an das Regelwerk, welches die verbindliche Grundlage für alle in der Organisation darstellt. Die Meetings laufen entsprechend ganz anders ab und folgen einer Struktur, in der es darum geht, stets Spannungen zu verarbeiten. Spannungen zu spüren und diese ins Meeting einzubringen, ist die Basis dafür, dass ein gelingendes Miteinander entstehen kann. Diese Spannungen sollen keine Kopfgeburten sein, sondern sie sind körperlich zu spüren, weil Menschen als Sensor*innen davon betroffen sind. Wichtig ist jedoch, Spannungen differenzieren zu können: betrifft es mich als Person oder meine Arbeit in der Organisation, betrifft es uns in Beziehung oder unsere Arbeit an der Organisation. Damit werden vier Entwicklungsräume aufgerufen: auf der einen Seite der persönliche und der Beziehungsraum, welche beide im Kontext des Menschen stehen und von Holakratie nicht adressiert werden und auf der anderen Seite der operative und Governance Raum im Kontext der Organisation, welche im Fokus von Holakratie stehen und bearbeitet werden. Damit ist klar, Holakratie richtet sich auf, entwickelt und verändert Strukturen, aber nicht Menschen. Im Unterschied zur Demokratie, in der es um die Governance der Menschen durch die Menschen für die Menschen geht, steht in der Holakratie die Governance der Organisation durch die Menschen für den Purpose im Mittelpunkt.
Mit diesem Wissen geht es für uns in das erste Tactical Meeting in Form einer Simulation. Wir übernehmen Rollen in einem fiktiven Unternehmen und bringen unsere Spannungen in unseren Rollen mit anderen Rollen ins Meeting ein. Dieses erste Meeting ist der erste Schritt, um einen neuen Umgang mit Spannungen zu üben bzw. den Geübteren den Raum für Vertiefung zu geben. Zwei Lerneffekte kristallisieren sich im Besonderen heraus: Es ist gar nicht so einfach, Spannungen nachzuspüren und diese (und nicht Menschen) zu adressieren und zu bearbeiten. Mit der Meeting-Struktur geht es stets um Konsent, bis keine*r mehr einen Einwand gegen einen Vorschlag hat, und nicht um Konsens, bis sich alle aktiv auf einen Vorschlag geeinigt haben – auch das fühlt sich anders an.
Tag 2: Agenda erstellen – Theorie versus Praxis
Am zweiten Tag geht es in die Vertiefung. Die morgendliche Reflexion zeigt, dass das Einspüren in die zugewiesene Rolle in der Simulation und das Ausprobieren des MeetingProzesses in der Praxis zwei Dinge sind. Denn es bringen einige bereits theoretisches, holakratisches Wissen auf unterschiedlichen Leveln mit, doch konkrete praktische Erfahrungen haben nur wenige von uns Teilnehmenden. Daher ist es gar nicht so einfach, sich zum einen in die zugewiesene Simulationsrolle samt Spannung hineinzudenken und zum anderen gleichzeitig den Meeting-Prozess samt Moderation zu durchlaufen. Es erfordert ein klares Umdenken (und Um-Fühlen), was jedoch zu einer spürbaren Horizonterweiterung führt. Ein solcher Prozess ermöglicht, die Scheu davor abzubauen und Spannungen in ein Meeting einzubringen, denn es gibt ein transparentes, strukturiertes Vorgehen. Gleichzeitig sind die Personen in ihren Rollen trotz noch bestehender Lücken und Unsicherheiten bzgl. des Prozessablaufs handlungsfähig. Holakratie ist anspruchsvoll, dabei jedoch auf eine sachliche Aufarbeitung von Themen und eine lösungsorientierte Umsetzung bedacht. Das ist produktiv!
Heute lernen wir Governance und die Formen der Selbststeuerung auf allen Ebenen in Organisationen kennen. Governance bedeutet, AN der Organisation zu arbeiten und diese prozessorientiert aufzubauen, zu entwickeln und zu verändern. Es wird immer deutlicher, dass die Arbeit an der Organisation stets die Strukturen betrifft und nicht Menschen als Personen sondern in ihren Rollen fokussiert. Dies schlägt sich bis in Formulierungskonventionen nieder, um konkret zu verdeutlichen, worum es genau geht: Geht es darum, eine Verantwortlichkeit festzulegen oder eine Aktion zu beschreiben? Oder soll ein Projekt formuliert und festgehalten werden? Letzteres wird gleich ins Perfekt gesetzt, damit das Ende des Projektes bereits sprachlich generiert worden ist. Damit wird die Zukunft in die Gegenwart geholt und greifbar. Und es zeigt, Kommunikation ist wichtig, vor allem die Genauigkeit, mit der kommuniziert wird. Sie gestaltet den Prozess und reguliert auf diese Weise auch die Beteiligten und ihre Spannungen.
Wir gehen in unser erstes Governance-Meeting. Eine (kleine) Herausforderung! Denn es gibt eine klare Struktur, an die sich jede*r zu halten hat. Die Moderation folgt dabei sprachlichen Vorgaben, welche auf einer Moderationskarte festgehalten sind. Es ist gar nicht so einfach, die Spannungen unserer Rollen in der Simulation entsprechend einzubringen und vorzutragen. Darüber hinaus ist es nicht gestattet, etwas zu sagen, wenn man gerade etwas sagen möchte, sondern nur, wenn man an der Reihe ist, nur zum jeweiligen Agenda-Punkt und auch nur, wenn es die eigene Rolle betrifft. Es geht also nicht darum, „die*den Held*in“ für andere zu spielen und sich für andere Rollen einzusetzen, auch wenn man helfen möchte. Jede*r ist für sich und ihre*seine Rolle selbst verantwortlich. Das ist anstrengend und entlastend zugleich! Doch es wird auch klar, dass mit der Routine und dem Einlassen auf die Holakratie ein Gefühl für den Prozess entstehen wird. Denn einige schaffen es bereits gut, ihre Themen einzubringen und zu bearbeiten. Ein Learning eines Teilnehmers bringt diesen Tag im Besonderen auf den Punkt: „Über Jahre hinweg habe ich es als gesundes Verhalten gelernt und gelobt, und jetzt habe ich es als pathologisch erkannt: Wenn man sich um etwas kümmert, das die betroffene Person gar nicht sieht!“
Tag 3: Agenda bearbeiten –(Selbst-)Steuern
Es ist eine Woche vergangen und wir treffen uns in Gruppen in einer Morgenreflexion. Wir bearbeiten u.a. die Fragen, was uns von der letzten Woche in Erinnerung geblieben ist und welche Verwunderungen und Fragen aufgetaucht sind. Es tritt immer wieder das Wort „Spannungen“ auf: wie Spannungen eingebracht werden, wer welche Spannungen einbringen kann, wie man mit Spannungen umgeht, die noch nicht gelöst worden sind, ob Spannungen anderer Kreise den eigenen Kreis wirklich nichts angehen und wie wichtig die konkrete Formulierung der Spannung ist. Das Denken in Spannungen ist für die meisten von uns recht neu und noch ungewohnt, denn es geht letztlich darum, gemeinsam in Spannungen zu arbeiten und zu praktizieren, um für alle tragfähige Lösungen zu finden. Und Spannungen können sich nicht nur kognitiv, sondern ebenso emotional und körperlich zeigen. Gefühle spielen also durchaus auch in Holakratie eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, als Sensor*in zu fungieren. Darüber hinaus kommt ein weiterer wichtiger Punkt noch einmal auf: Mit Holakratie verändern wir Systeme und Strukturen jedoch nicht Menschen, wir lassen den Menschen Mensch sein. Es geht also immer wieder darum, den Raum zu halten, so dass sich etwas entwickeln kann und dabei agieren wir nicht als Person sondern in unserer Rolle. Das heißt auch, dass Kreise nicht um Menschen sondern um Bedarfe gebaut werden. Die Differenzierungsleistung ist dann, Mensch und Rolle unterscheiden zu lernen, diese aber nicht gänzlich voneinander zu trennen. Denn natürlich werden Rollen von Menschen ausgefüllt, aber es macht einen Unterschied, ob ich mit einer Spannung die Rolle oder den Menschen adressiere. Adressiere ich die Rolle, hilft dies im Meeting, Klarheit über die Spannung herzustellen und diese auch weitgehend ohne emotionale Involviertheit zu lösen. Gibt es Spannungen zwischen Personen, braucht es hierfür ein weiteres Format, das jedoch auch in der Holakratie Raum finden darf, jedoch nicht in den regelmäßigen Meeting-Formaten (Tactical und Governance).
Heute steigen wir vertieft ins Governance-Meeting ein. Das Governance-Meeting ermöglicht Strukturen zu verändern, neue Rollen einzurichten, Domänen und Richtlinien festzulegen. Das Governance-Meeting arbeitet also an der Struktur der Organisation und ist nicht für das operative Geschäft vorgesehen. Es ist ein integrativer Entscheidungsprozess, der darauf angelegt ist, Vorschläge auf ihre Gültigkeit hin abzuklopfen, Einwände zu testen und einer Sicherheitsprüfung zu unterziehen, ob sie integrationsfähig sind oder verworfen werden. Auch dieser Prozess folgt einer klaren Meeting-Struktur vom Vorstellen des Vorschlages über Verständnisfragen im Popcornstyle (wie wir gelernt haben, darf hier jede*r muss aber nicht Fragen stellen), über die Reaktions-Runde für alle und die Gelegenheit zur Klärung der*s Vorschlagenden bis zur Einwand-Runde und ggf. Integration. Dies das erste Mal zu moderieren, ist eine Herausforderung, welche aber von allen angenommen wird. Es ist anspruchsvoll, inhaltlich mitzudenken, während man mit den Techniken des Prozesses beschäftigt ist. Dabei hilft es, sich von der Moderationskarte leiten zu lassen. Uns fällt es auch noch schwer, die Validität von Vorschlägen, sowohl auf formaler als auch auf holakratisch gerechtfertigter Ebene prüfen zu können. Aber eines haben wir mal wieder ganz sicher gelernt und vertieft – das ist unsere Haltung: Als Prozess-Moderator*in moderiere ich den Prozess und nicht die Menschen! Sich dieses bewusst zu machen, ist elementar, denn dann steuere ich den Prozess, um zu einem erfolgreichen Abschluss zu kommen, und kann meine Macht nicht missbrauchen, indem ich Menschen reguliere.
Tag 4: Agenda vertiefen – Einwände testen
Heute werden wir das Governance-Meeting vertiefen und das Testen von Einwänden ausführlich erproben. Doch zuerst stellen wir uns die Frage, was uns eigentlich am meisten in Bezug auf Governance beschäftigt. Die Antwort sind Gegenfrage: Wie wird Governance wirklich gelebt? Wie funktioniert die Umsetzung von der Theorie in die konkrete Praxis? Und: Wie empowere ich Menschen, tatsächlich Governance durchzuführen und auch zu verstehen? Denn was wir bereits gelernt haben, die/der Moderator*in muss sich sowohl bewusst machen, dass sie*er den Prozess einhält und dafür Sorge trägt, dass dieser auch von den anderen eingehalten wird, als auch, dass sie*er sich fachlich und inhaltlich in ihrer Rolle beteiligen sollte. Also eine große Aufgabe für die Moderierenden.
Wir arbeiten wieder mit den Moderationskarten für das Governance-Meeting und üben vor allem das Testen von Einwänden. Hierzu bekommen wir verschiedene Szenarien, welche wir in wechselnden Rollen durchspielen und dabei ein Gefühl dafür entwickeln, wie es für uns gut funktioniert. Das ist erst einmal gar nicht so einfach. Wir setzen an dem Punkt an, an dem eine Rolle bereits einen Vorschlag eingebracht hat, und springen dann direkt ins Prüfen. Einwände-Testen bedeutet, als erstes abzufragen, ob ein konkreter Schaden verursacht werden kann. Je nach Antwort folgen unterschiedliche Optionen. Wenn ein Schaden verursacht werden kann, ist es zweitens entscheidend, ob der Vorschlag eine der eigenen Rollen behindert oder ob man anderen Rollen oder dem Kreis insgesamt helfen will. Denn nur, wenn die eigene Rolle behindert wird, ist ein Einwand gültig. Als drittes Kriterium stellt sich die Frage, ob durch den Vorschlag der Schaden verursacht wird oder sich verschlimmert oder ob der Schaden jetzt schon ein Problem ist, auch ohne den Vorschlag. Greift letzteres, ist der Einwand nicht gültig, weil hier bereits eine andere Spannung besteht, an welche die einwendende Person erinnert wird. Das vierte Kriterium prüft, ob die einwendende Person aus Erfahrung weiß, dass der Schaden entstehen wird oder ob sie es vermutet. Auch hier gibt es wieder unterschiedliche Optionen, die prüfen, ob ein etwaiger Schaden korrigiert werden könnte und es möglich ist nachzusteuern oder nicht. Denn nur wenn der Schaden, der eintreten könnte, so bedeutend ist, dass nicht nachgesteuert werden kann, ist er integrationspflichtig.
Das Einwände-Testen ist ein recht komplexer Prozess, der ungeübte Moderator*innen erst einmal sehr fordert. Zudem sind wir es nicht gewohnt, in dieser Form miteinander zu sprechen und uns so klar an einen vorgegebenen Ablauf zu halten. Gleichzeitig wird jedoch sehr fühlbar deutlich, dass keine ausufernden Diskussionen möglich sind, weitestgehend persönliche Angriffe unterbunden werden und Einwände nicht so einfach aus „Lust und Laune“ einen Vorschlag verhindern können, sondern nur dann, wenn sie begründet sind und in der Verantwortung der einwendenden Rolle liegen. Das macht Sinn und unterbindet unnötige Diskussionen, auch wenn es erst einmal sehr ungewohnt ist, sich auf einen solchen Prozess einzulassen. Doch am Ende ist das Learning: Als vorschlagende Person bekommt man die Sicherheit, sich auf den Prozess verlassen zu können, denn nur bedeutende Schäden werden ausgefiltert, es kann also niemand (wissentlich) anderen Steine in den Weg legen, wenn der Prozess richtig durchgeführt wird.
Exkurs: Übung – Scripted Holacracy
Heute haben diejenigen, die mehr wollen, die Möglichkeit, das Gelernte anzuwenden und zu üben. Wir sind ein kleinerer Kreis und werden in drei Gruppen aufgeteilt. Dieses Mal (schau-)spielen wir und schlüpfen in vorgetextete Rollen. In jeder Gruppe werden wieder die im Prozess betroffenen Rollen verteilt, doch unsere Rollen sind in dieser Simulation als TextScript wie bei Schauspieler*innen ausgearbeitet, so dass wir unseren Text im Spiel aufsagen können. Nur die moderierende Person bekommt keine genaue Textvorgabe, sondern lediglich eine Beschreibung der Situation, die gelöst werden soll, und übt, wie sie mittels der Governance-Meetingkarte durch den Prozess führt. Sie muss also auf die gescripteten Situationen intuitiv jedoch nach den Regeln der Holakratie reagieren. Das ermöglicht den anderen Rollen, sich voll und ganz auf den Prozess zu konzentrieren und sich nicht noch inhaltlich in die Rolle eindenken zu müssen. Es ist das Ziel, unterschiedliche Szenarien zu erproben, u.a. Konfliktsituationen, bspw. wenn eine Person immer wieder persönliche Angriffe ins Meeting bringt und damit die Regeln bricht. Die große Herausforderung liegt bei dieser Vorgehensweise vor allem bei der Moderation, denn dieser Person obliegt es, die jeweilige Situation im Sinne der Holakratie zu lösen und durch den entsprechenden Prozess zu führen, d.h. auch zu erkennen, ob Einwände integrationspflichtig sind oder nicht. Big Learning für das Moderieren!
In der Übung wird deutlich spürbar, dass durch die Einhaltung des Prozesses immer wieder die Orientierung auf die Sache resp. das Thema gelenkt wird und persönliche Angriffe dadurch besser zurückgewiesen bzw. gar kaltgestellt werden können, ohne die Person direkt zurechtweisen zu müssen. Die klare Struktur des Meetings hilft dabei, immer wieder auf das Thema des Vorschlags und das Abklopfen von Einwänden zurückzukommen, auch wenn das Meeting droht torpediert zu werden. Dies wird in dieser Übung um so deutlicher, da wir in wechselnden Rollen mal Störenfriede, mal Helfende für andere Rollen (also nicht Einbringende für einen eigenen Einwand), mal Vorschlagende für operative Einwände (was ins Tactical-Meeting gehört) sind. Summa summarum zeigt sich sehr eindrücklich: Diese Form des Holakratie-Erlebens ist wie ein Game, das großen Spaß macht, weil deutlich spürbar wird, wie der Prozess funktioniert, wenn er gekonnt durchgeführt wird. Als moderierende Person wird fühlbar, mit welchen Herausforderungen man konfrontiert werden kann, aber auch, wie sich diese mit Hilfe des klaren Prozesses regeln lassen, ohne Personen aktiv regulieren zu müssen. Ein echter Erfahrungsgewinn! Gamification in Form von Scripted Holacracy!
Tag 5: Kollaborationen – Spannungen differenzieren
Wieder ist eine knappe Woche vergangen und wir tragen in der Morgenreflektion unsere Eindrücke zusammen. Eine sehr selbstreflektierende Frage wird uns dabei mit auf den Weg gegeben: Was wird wohl anderen (Familie, Freund*innen, Kolleg*innen etc.) am ehesten an dir auffallen, wenn du zunehmend die Praktiken und Prinzipien von Holakratie verinnerlicht hast? Das führt uns zum Nachdenken. In unserer Gruppe merken wir, dass wir lernen, zwischen Emotion und Person zu unterscheiden. Damit lernen wir, Spannungen zu differenzieren, indem wir uns Fragen stellen, wie: Auf welcher Ebene findet die Spannung statt? Auf welcher Ebene kann ich mit der Spannung umgehen? Welche Aspekte gehören wohin? Es geht also darum, die Spannung analytisch zu trennen, gar zu zerlegen und das, woraus sie besteht, auseinanderzudividieren und dem nachzugehen, was hinter der Spannung liegt. Durch Holakratie kann dafür ein geführter Raum entstehen, in dem miteinander gesprochen wird, in dem man sich traut, etwas einzubringen, wenn man es von der persönlichen Ebene wegbringt. Denn, auch in anderen sozialen Zusammenhängen außerhalb der Arbeit, kann an sich nichts erwartet werden, was nicht explizit benannt worden ist und auf bereits vorherige Absprachen, Vereinbarungen und gegenseitiges Verstehen trifft. Gleichzeitig merken wir auch, dies braucht noch viel Übung und das Dranbleiben an Holakratie, um ein Gefühl für die ganze Materie zu bekommen.
Heute tauchen wir noch einmal vertieft in die operative Zusammenarbeit mit Holakratie und ins Tactical-Meeting ein. Dafür wird uns ein Flowchart für die meisten Belange des täglichen Arbeitens in Rollen zur Verfügung gestellt. Das Chart beinhaltet alle Wege, die beschritten werden können, wenn Spannungen auftauchen. Unsere Aufgabe ist es nun, in Zweiergruppen Spannungen zu sammeln und diese mit Hilfe des Flowcharts zu lösen, um zu erkennen, welchen Pfad wir mit welcher Spannung beschreiten (können). Das Chart hilft uns, uns gegenseitig zu führen und am Ende zu diskutieren, wie klar uns der Lösungsweg ist, welche Optionen uns zur Verfügung stehen und wie wir Entscheidungen treffen, um einen Pfad einzuschlagen und inwiefern Muster bei den unterschiedlichen Spannungen und entsprechenden Lösungen zu entdecken sind. Mal wieder eine Herausforderung, die bei einigen angesichts des komplexen Flowcharts erst einmal Verwirrung stiftet. Spannungen zu finden ist noch relativ einfach, diese mit Hilfe des Charts zu lösen, führt uns erneut tief ins holakratische Denken. Doch wie sich herausstellt, ist dies weniger kompliziert als gedacht. Wir diskutieren anhand des Charts unsere Möglichkeiten, wodurch klar wird, welche Pfade taugen und stimmig sind, und wo wir in die Irre geführt werden. Übergeordnete Fragen sind für uns: Wer braucht hier was von wem? Und ist das nützlich? Unsere Conclusio lautet: Flow entsteht, wenn Reibungsverluste stark reduziert werden, es klare Zuständigkeiten gibt (womöglich ohne unnötige Nachfragen) und auf diese Weise das Arbeiten einfach und angenehm wird. Das Unternehmen wird so zu einer lebendigen, „selbst lebenden“ Organisation – unabhängig von einzelnen Menschen und Chef*innen, denn es entsteht durch den klaren Prozess viel Hilfe zur Selbsthilfe. So können mehr Selbstwirksamkeit und Erfüllung für den einzelnen in der Organisation entstehen, was den Austausch untereinander sowie über Rollen und Grenzen hinweg ermöglicht und damit auch das Wir-Gefühl befördert. Organisationen erhalten so eine erhöhte Wandlungsfähigkeit, was Hand in Hand mit der Veränderungsfähigkeit der Mitarbeitenden geht, welche gefordert sind, sich darauf einzulassen. Veränderung ist kein Ausnahmezustand mehr, sondern ein definierter und viel trainierter Schritt für alle Beteiligten, der zur Gewohnheit wird.
Tag 6: Abschluss – evolutionäre Praxis
Unser letzter Tag! Wir stellen uns die Frage: Was haben wir gelernt? Die vielen, anschaulichen Simulationen und das Anwenden in der Praxis nahmen vielen Teilnehmenden die anfänglichen Sorgen, Holakratie verstehen und umsetzen zu können. Nun geht es darum, es einfach zu tun, einfach auszuprobieren – „ins Doing zu kommen“! Es ist spürbar, dass bei allen ein Gefühl entstanden ist, sehr viel mehr verstanden zu haben als zuvor und auch die Hintergründe und theoretischen Zusammenhänge besser einordnen zu können. Denn Holakratie bedeutet auch viel Bewegung für diejnigen, die es lernen und anwenden wollen. Wir haben neue Sichtweisen und neue Denkweisen erprobt und viele unterschiedliche Impulse auch aus der Gruppe mitgenommen. Eigenverantwortung zu übernehmen spielt eine große Rolle – und auch dazu braucht es ein anderes Mind-Set als es die meisten gewohnt sind. Zugleich ist das Vertrauen gewachsen, dass Holakratie auch in der eigenen Unternehmenspraxis funktionieren wird, dies gibt Sicherheit für die Umsetzung und das Gefühl, dass es trägt.
Für all dies ist auch die Haltung, welche Holakratie zu Grund liegt, entscheidend. In holakratisch geführten Organisationen ist immer klar, bei wem die Verantwortung liegt. Es geht nicht darum, Personen zu entmachten, sondern die Struktur stärkt die gemeinsame Unternehmung und folgt einem übergeordneten Sinn bzw. einem Unternehmens-Purpose. Holakratie ist somit eine evolutionäre Praxis, was sich in den Strukturen, der Arbeitsverteilung, -verantwortung und Kommunikation niederschlägt. Anfragen werden in solch einer Praxis stets an die Rolle und nicht an die Person gestellt. So können alle Beteiligten aus ihrer Rolle heraus agieren, ohne sich persönlich angegriffen zu fühlen. Wie diese Struktur funktioniert, verdeutlich bereits der Wortstamm: Holon ist ein Ganzes, das wiederum Teil eines größeren Ganzen ist und Holarchie beschreibt eine natürliche Hierarchie in einer zunehmenden Ganzheitlichkeit. Das bedeutet, dass die Struktur sich selbst ähnlich ist und in einem sich selbst ähnlichen Prozess organisch wächst. Die organische Struktur entsteht dabei iterativ. Voraussetzung dafür ist die Selbststeuerung der Kreise. Die Strategie in Holakratie ist somit kein Bündel von Maßnahmen, sondern eine Heuristik von Priorisierungen. Um unser Verständnis hierfür zu schärfen, schauen wir uns anhand verschiedener Szenarien die konventionelle Management-Hierarchie gegenüber der Holakratie an. Es geht dabei u.a. darum, wie die operative Arbeit verteilt wird, wie Ressourcen zugeteilt werden, wie Konfliktlösungen aussehen, wie Verantwortung gestärkt wird etc. Es ist eindrücklich so nebeneinandergestellt zu sehen, welch vergleichsweise viel größeren Spielraum Holakratie bereitstellt und dass ungleich mehr Rollen (und damit auch Personen) in Entscheidungsprozessen inkludiert sind – je nach Verantwortungsbereich. Im konventionellen Management oblag die Lösung der Szenarien durchgehend bei den Manager*innen.
So wurde zum Abschluss des Trainings nochmals sehr deutlich, auf welchem Verständnis Holakratie basiert und welche Sicht auf Organisationen (eigentlich gar auf Welt) damit verbunden ist. Jetzt geht es darum, dies in der (eigenen) Praxis umzusetzen, ein Gefühl für Rollen, Kreise, Domänen, für Circle Lead, Kreis Rep und Richtlinien im eigenen Tun zu entwickeln. Und damit gehen alle Teilnehmenden getreu ihrer Rollen mit einem Bündel sinnhafter Arbeit ans Werk!
* Gestalterin integraler Bildungskultur als KreislaufWirtschaft * Medien- & Sozialwissenschaftlerin, Innovatorin & Impulsgeberin