Vier Arten, wie Holacracy das Beste in Menschen hervorbringt
- Brian Robertson (HolacracyOne)
Wenn es eine Kritik an Holacracy gibt, die ich immer wieder höre, dann eine Variation dieses Themas: “Holacracy ist zu rigide. Menschen sind keine Roboter. Es ist unmenschlich!”
Das ist ein unglückliches Missverständnis, doch ich verstehe woher es kommt. Besonders zu Beginn erscheinen die Meeting Prozesse vielleicht rigide und restriktiv. Es kann sich ungelenk und unnatürlich anfühlen, einem neuen Regelwerk zu folgen, statt die Dinge zu tun, wie wir sie immer getan haben. Doch sobald die Leute diesen anfänglichen Übergang durchlaufen haben, entdecken sie folgendes: Holacracy ist in Wirklichkeit das “menschlichste”System, das es gibt, um eine Organisation zu betreiben.
Holacracy würdigt einige der besten Anteile unserer Menschlichkeit und es fordert uns dazu heraus, uns zu entwickeln und noch menschlicher zu werden, nicht weniger menschlich. Hier sind vier Arten, wie die Praxis von Holacracy das Beste in Menschen zum Vorschein bringt.
Sich abwechseln
Holacracys Meetingprozesse beinhalten sehr spezifische Regeln darüber, wer sprechen darf, und wann es für andere angemessen ist, zu antworten, oder auch nicht. Diejenigen, die nicht mit dem System vertraut sind, hängen sich oftmals daran auf. “Was meinst du damit, ich darf nicht sagen, was ich denke oder fühle? Ich bin kein Roboter – ich habe Gefühle und ich habe ein Recht darauf, sie auszudrücken!”
Hier ist das Problem mit dieser Haltung: hast du jemals etwas bemerkt, das besser funktionieren könnte, als es das aktuell tut? (In Holacracy nennen wir das eine “Spannung”– das Gefühl einer Lücke zwischen dem, was ist und was sein könnte.) Du bringst deine Spannung in ein Meeting, in der Hoffnung, etwas zu verändern und die Situation zu verbessern. Die Worte sind dir gerade über die Lippen gegangen, da springt schon einer deiner Kollegen rein. “Ja, ich finde auch, dass X nicht funktioniert. Aber weißt du was? Y funktioniert auch nicht!”Bevor du dich versiehst, hat jeder seine eigenen Spannungen mit auf den Tisch gelegt und deine Versuche, in einem bestimmten Bereich etwas zu verändern, bleiben stecken.
Holacracy Meetings sind designed, um diese frustrierend alltägliche Situation zu vermeiden. Sie schützen den Raum, damit eine Person eine Spannung einbringen, eine Lösung vorschlagen und tatsächlich eine bedeutsame Veränderung anstoßen kann. Um das zu tun, erlauben die Meeting Prozesse es anderen Leuten nicht, einfach ihre eigenen Reaktionen und verwandten Probleme oben drauf zu kippen. Das mag sich rigide oder unmenschlich anhören, doch in Wirklichkeit ist es auf tiefe Weise rücksichtsvoll gegenüber dem Menschen, der den Vorschlag macht. Und alle anderen werden einfach darum gebeten, eine fundamentale menschliche Fähigkeit zu üben, die wir alle als Kinder lernen: sich abwechseln. Junge Kinder finden es schwierig, geduldig zu sein, anderen Raum zu lassen, anderen zu erlauben, zuerst dran zu kommen. Sobald sie diese Fähigkeit gemeistert haben, ist es ein wichtiger Entwicklungsschritt. Unglücklicherweise scheinen wir als Erwachsene diese Lektion vom Spielplatz zu vergessen, wenn wir uns in ein Business Meeting setzen.
In Holacracy hat jeder eine Gelegenheit, seine eigenen Spannungen zu verarbeiten und seine Perspektiven zu teilen. Doch um jeder Person einen sicheren Raum zu geben, wo sie das tun kann, können wir nicht alle gleichzeitig sprechen und Spannungen müssen jeweils eine zur Zeit verarbeitet werden. Alle anderen werden gebeten, Geduld zu üben, ihr Urteil zurückzuhalten, zuzuhören und ihre Kollegin mit ihrer Aufmerksamkeit zu würdigen. Wenn das keine menschlichen Tugenden sind, dann weiß ich auch nicht.
Würdigung menschlicher Kreativität
Wenn ich darüber nachdenke, was uns menschlich macht, dann ist eines der Dinge, die mir als erstes in den Sinn kommen, unsere Kreativität. Wir bemerken Probleme und wir kommen mit einer Lösung um die Ecke. Unser Bewusstsein kann spüren, wenn etwas nicht funktioniert (eine “Spannung”), und wir stellen uns vor, wie es besser funktionieren könnte. Wir sind nicht damit zufrieden, einfach das Beste aus den Dingen zu machen, so wie sie sind. Holacracy ist spezifisch dafür entwickelt, diese einzigartige menschliche Fähigkeit zu nutzen und zu würdigen.
Viel zu oft erleben wir in Organisationen große Frustration, weil wir Spannungen spüren können, doch wir nicht die Fähigkeit haben, sie in kreative Verbesserungen zu verwandeln. Wenn eine Organisation mit Holacracy läuft, dann ist jeder dazu ermächtigt, seine Spannungen zu verarbeiten. Menschliche Kreativität und Einfallsreichtum werden das wertvollste Werkzeug der Firma – nicht nur um neue Produkte oder Dienstleistungen zu erfinden, sondern um die Art wie die Menschen zusammenarbeiten und sich zu organisieren, kontinuierlich zu verbessern. Das Ergebnis ist für jeden Menschen in einer mit Holacracy betriebenen Organisation eine auf tiefere Weise erfüllende Erfahrung, ein kreativer Partner, statt nur ein Rädchen im Getriebe zu sein.
Ermutigung von Selbst-Gewahrsein / Achtsamkeit
Eine weitere Fähigkeit, die Menschen von ihren Mitgeschöpfen unterscheidet, ist Selbst-Gewahrsein, bzw. Achtsamkeit. Das menschliche Bewusstsein kann auf sich selbst reflektieren. Wir können das Aufsteigen von Gedanken, Gefühlen und Reaktionen beobachten und Entscheidungen darüber treffen, in Bezug worauf wir handeln wollen. Wir sind nicht einfach Sklaven unserer Instinkte. Holacracy fordert die Leute dazu heraus, dieses Geschenk zu praktizieren – uns unserer Selbst mehr gewahr zu werden und, falls angemessen, Selbstkontrolle zu üben, während eine andere Person dran ist. Ich lege nicht nahe, dass wir unsere Menschlichkeit mit all ihren Wirrungen unterdrücken müssen, doch ich schlage vor, dass es gesund ist, zu lernen, nicht blindlings von ihr getrieben zu werden.
Unsere instinktiven Antworten können ziemlich mächtig sein. Selbstbezogenheit, Aufgeregtheit, Konkurrenz, Inspiration, Verurteilung, Erleichterung, Defensivität – all diese Emotionen und mehr steigen vielleicht auf, während wir jemand anderem zuhören, der seine Spannung verarbeitet. Ohne Selbst-Gewarhsein realisieren wir vielleicht nicht einmal, welche Gefühle unsere Reaktionen motivieren. Wenn ein Prozessmoderator uns abschneidet, oder wir uns selber dabei erwischen, wie wir außer der Reihe sprechen, dann wirft das ein Licht darauf, was uns antreibt. Die daraus resultierende Reflektion mag nicht angenehm sein, doch sie wird uns helfen, uns selbst besser zu verstehen. Und im Verlaufe dieses Prozesses glaube ich, dass wir bessere Menschen werden, mit tieferem Selbst-Gewahrsein und Selbst-Meisterung. In der Welt der Organisationen ist heutzutage vielfach die Rede von “Achtsamkeit”. Holacracy bietet die Gelegenheit, jeden Tag Achtsamkeit einzuüben und dadurch bewusstere Arbeitsumgebungen zu kreieren.
Menschen wie Erwachsene behandeln
Früh in der Entwicklung von Holacracy haben wir Werbeslogans für unser Marketing Material gebrainstormt und meine Frau und Business-Partnerin, Alexia Bowers, schlug halb im Scherz vor “Organisation für Erwachsene”. Ich habe immer gedacht, dass das eine der akkuratesten Beschreibungen dessen war, wonach Holacracy strebt.
Diejenigen, die Holacracy als “unmenschlich”sehen, beschweren sich oft, dass es sich nicht genug um die Menschen kümmert. Und das stimmt – der Prozess ist nicht dafür designt, sich um jeden zu kümmern; er ist dafür designt, Menschen zu erlauben, sich um sich selbst zu kümmern, indem sie Spannungen verarbeiten. Zu viele Organisationen nehmen eine Eltern-Kind Beziehung gegenüber ihren Angestellten ein. Moderne Management-Hierarchien behandeln Leute fast unausweichlich wie Kinder, die überwacht werden müssen, denen man sagen muss, was sie zu tun haben, und um die man sich kümmern muss.
Holacracy würdigt die Souveränität jeder Person, sieht sie als komplett in der Lage, sich selbst zu managen, ihre Projekte voranzutreiben, motiviert zu bleiben und sich um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Mit anderen Worten, sie behandelt sie wie Erwachsene. Holacracy behandelt Menschen nicht als untergeordnet, oder als bedürftig nach Management, Motivation oder Bemutterung. Sie behandelt sie als reif genug, um ihre eigenen Arbeitsabläufe zu managen, ihre eigenen Rollen zu führen und sich die Hilfe und die Ressourcen zu holen, die sie dafür brauchen.
Das soll nicht heißen, dass Menschen keinen sicheren Raum brauchen, in dem sie aufblühen können; in der Tat haben Forscher von Googles “People Operations”Abteilung kürzlich eine mehrjährige Studie durchgeführt, darüber, was ein erfolgreiches Team ausmacht und haben herausgefunden, dass ein Gefühl der “psychologischen Sicherheit”bei weitem die Wichtigste der entscheidenden Eigenschaften war. Holacracys strukturierte Meetingprozesse helfen dabei, dieses Gefühl der Sicherheit zu schaffen, indem sie das Recht jedes Individuums beschützen, seine Spannung zu verarbeiten.
Es ist also wahr, dass der Holacracy-Prozess sich nicht um die Menschen kümmert. Doch statt unmenschlich zu sein ist es vielmehr ein menschlicherer Ansatz: er gibt Leuten den Raum und die Sicherheit, um ihre menschliche Kreativität auszuüben, schützt ihr Recht, das zu tun, ermutigt sie dazu, Selbst-Gewahrsein zu entwickeln und behandelt sie wie Erwachsene. Das ist die Art von Menschlichkeit, von der wir mehr in unseren Arbeitsumgebungen brauchen.
Dieser Blogbeitrag erschien erstmals auf dem Blog von HolacracyOne. Das Original findest du hier Die Übersetzung stammt von Dennis Wittrock, Xpreneurs, mit freundlicher Genehmigung von HolacracyOne.
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