Wie Unternehmen jetzt produktiv bleiben, ihren Mitarbeitern Halt geben und welche konkreten Tools und Praktiken dabei unterstützen
Ich gebe es zu, ich bin eine von denen, die häufiger Sprüche bringen wie: „es bräuchte wohl mal eine ernste Krise, um die Weltbevölkerung zum Umdenken zu bewegen und die Klimakatastrophe einzudämmen“. Während ich jetzt in der Krise persönlich mit einigen unmittelbaren Fragen ringe, z.B.
- wie wir als Familie in den nächsten Wochen eine brauchbare Struktur für die drei jungen Schulkinder entwickeln können,
- die Schwiegermutter schonen, die mit uns im Haus lebt und
- daneben genug Freiraum finden, um unsere Unternehmen aktiv vor der Insolvenz zu bewahren.
Dabei bewegen mich v.a. zwei Gefühlslagen:
1. Scham, dass ich so leichtfertig denken und eine so existenzielle Situation beinahe herbeiwünschen konnte und
2. eine große Neugier:
- Wie wird es uns allen, den einzelnen Menschen und Familien, den Unternehmen und Staaten gelingen, diese pandemischen Zeiten gut zu überstehen?
- Was wird sich daraus Neues und möglicherweise auch Großartiges entwickeln?
- Welche vorher undenkbaren Lösungen werden wir entdecken, wie globale Zusammenarbeit verantwortungsbewusster, Sinn-bewusster, Bedürfnis-integrierender gelingen kann?
- Wie werden wir Verteilungskämpfen vorbeugen, Lebensgrundlagen sichern, Lebensgrundlagen neu denken?
Vor dem Hintergrund der großen Fragen gilt es aktiv und erfinderisch im eigenen Umfeld zu werden – und das auch für andere, die noch stärker betroffen sind, aus äußeren oder inneren Gründen. Im Netz verbreiten sich bereits hilfreiche Hinweise zu virtueller Teamführung, Home Office, etc. Hier unser Best-of aus der eigenen Praxis mit Holacracy, Selbstmanagement, Arbeit im Remote Team, virtuellen Dojo Sessions für persönliche Entwicklung, etc.:
Die Prinzipien:
Im taktischen Raum (strategisch und operativ):
- Rhythmus und feste Zeitfenster
- Häufiger Kontakt
- Struktur und Ritualisierung von Zusammenkünften
- Transparenz über Kennzahlen, Strategien, geplante Arbeit und Ergebnisse
- Förderung von Responsivität und Innovationsfähigkeit
Im Governance Raum (Strukturen, Regelungen):
- Klare Verantwortlichkeiten
- Dezentrale Entscheidungsbefugnisse
- Adaptivität des Gesamtsystems
Im Persönlichen und Zwischenmenschlichen Raum
- Räume für persönlichen Kontakt und authentische Mitteilung
- Moderierte Integration verschiedener Bedürfnisse
- Königsdiszipling: persönliche Coping- und Entwicklungsarbeit im Team – die Krise nutzen und das Narrativ umschreiben
Beginnen wir doch mit dem taktischen Raum, der knüpft am ehesten an Bekanntem an:
Der taktische Raum
Selbstmanagement, Abstimmung, Ausrichtung und Zusammenarbeit in pandemischen Zeiten
Auf die naheliegenden Fragen „wie können wir jetzt sicherstellen, dass unsere Produktivität hoch bleibt und alle wissen, was sie zu tun haben?“ gibt es ein ganzes Netz an miteinander verbundenen Antworten.
Für anhaltend hohe Produktivität in einem (ungewohnt) verteilt arbeitenden Team ist eine ausgewogene Mischung aus zwei Aspekten notwendig: Enge Abstimmung und ungestörte „Flow“-Zeit. Hier hilft Rhythmisierung, damit nicht ein Teammitglied gerade dann Abstimmungsbedarf verspürt, wenn sein Kollege endlich einmal ungestört eintauchen könnte. Zeitfenster zweckgebunden fest zu reservieren ist besonders in einer Situation entscheidend, in der auf Eltern neben der Arbeit von zu Hause aus noch die Betreuung der Kinder zurückfällt. Außerdem gilt es, neue Meeting-Praktiken einzutrainieren, um effizient für Transparenz und eine gemeinsame Ausrichtung zu sorgen und damit (v.a. für Management und Führungskräfte/-rollen) einer exzessiven Flut an bilateralen Abstimmungsgesprächen vorzubeugen.
Hilfreiche Praktiken und nützliche Tools
Daily Check-In
(täglich, 15-20 min)
Wir empfinden es als nützlich, täglich einen kurzen Check-In als Videokonferenz zu machen, morgens, wie ein Daily Stand-up.
Funktion: Transparenz über Fortschritt, nächste Schritte und Hindernisse erzeugen
Wer? Möglichst das ganze Team
Wie? Moderiert + Visualisiert (am virtuellen Teamboard)
Ablauf
Jeder beantwortet 4 Fragen (wer Scrum kennt, wird darin das meiste wiedererkennen;):
- Was beschäftigt mich gerade persönlich (siehe später persönlicher Raum)
- Was habe ich gestern geschafft
- Was nehme ich mir für heute vor
- Welche Spannungen habe ich und was brauche ich konkret von anderen, um mit meiner Arbeit weiterzukommen?
Nützliche Tools
- Zoom (oder andere Videokonferenz-Tools, zB Skype, Google Hangout, Go-to-meeting, etc.)
- Trello (oder andere Teamboard-Tools, zB Asana, Jira, wir nutzen Notion, etc.)
Strukturierte taktische Meetings
(mind. 1x wöchentlich, 1-1,5 h)
Gut strukturierte taktische Meetings sind ein Herzstück produktiver Teams. Sie vermeiden viele Stunden bilateraler Abstimmung, sind dicht, brauchen hohe Konzentration und führen mittelfristig häufig zu besserem Selbstmanagement, weil sich niemand die Blösse geben möchte, völlig unvorbereitet zu sein. Moderation ist hier absolut wesentlich!
Funktion: „Gesundheits-Check“ der Arbeit im Team, Informiert-Sein, nächste Schritte und Ergebnisse klären
Wer? Möglichst das ganze Team
Wie? Moderiert + Visualisiert (am virtuellen Teamboard, möglichst mit Kennzahlen-Dashboard)
Ablauf
Wir halten uns dabei an den Ablauf des Holacracy Tactical Meetings. Hier gibt es einen designierten Part für den „Gesundheits-Check“, es wird also gemeinsam kurz (visuell unterstützt) betrachtet, ob alle wichtigen, wiederkehrenden Tätigkeiten gemacht sind, wie die Zahlen aussehen und welchen Fortschritt die Projekte machen. Dann gibt es einen Part mit freier Agenda. Hier werden alle Bedarfe (Spannungen) sehr effizient „triagiert“, es wird also herausgefunden, was es braucht, um mit dem Thema weiterzukommen. Weder langwierige Ist-Stands-Berichte noch ausufernde Diskussionen sind jemals wieder ein Problem – solange die Moderation ihren Job gut macht;)
Nützliche Tools
- Für die Videokonferenz: Zoom (oder andere Videokonferenz-Tools, zB Skype, Google Hangouts Meet, Go-to-meeting, etc.)
- Für den Meeting-Ablauf: Holaspirit oder Glassfrog (spezifische Tactical Tools, die im Holacracy-Stil durchs Meeting führen, aber auch für andere Formate verwendbar)
- Für die Transparenz der Aufgaben: Trello (oder andere Teamboard-Tools, zB Notion, Asana, Jira, etc. – bei Verwendung der Tactical Tools kann darauf verzichtet werden, die haben schon eine Board-Ansicht inklusive)
- Als Zahlen-Dashboard: Qlik (oder andere BI-Software)
Fokus-Meetings
(nach Bedarf, nicht länger als 2h)
Gemeinsam denken und Entscheidungen nicht alleine tragen müssen ist ein starkes Bedürfnis, v.a. in pandemischen VUCA-Zeiten. Austausch von Sichtweisen ist wichtig, v.a. auch bewusst andere Sichtweisen mit einzuladen, um nicht zu einseitig zu denken („Filter-Bubble“-Risiko). Gleichzeitig braucht gemeinsame Entscheidungsfindung viel Zeit – und noch viel mehr, wenn sie nicht nach einigen wesentlichen Prinzipien funktioniert.
Funktion: Das ganze Bild sehen, alle wesentlichen Perspektiven integrieren, ein gemeinsames Verständnis entwickeln
Wer? Alle für die Thematik wesentlichen Rollen (und nicht mehr als diese!)
Wie? Moderiert + Visualisiert (virtuelles White Board oder Open Canvas Software, evtl Umfrage-Tools bei größeren Gruppen)
Wesentliche Prinzipien
- Klarer Sinn und Zweck des Meetings allen bekannt (und von der Moderation ggf. erinnert)
- Visuell und durch Leitfragen gestützte inhaltliche Struktur
- Orchestrierter Wechsel zwischen Einzelarbeit, ggf Break-Out-Sessions (bei Gruppen über 7 Personen) und gemeinsamer Arbeit
- Visuelle Dokumentation aller (Zwischen-)Ergebnisse
- Moderierte Runden (Abfrage aller Teilnehmenden zu spezifischen Fragestellungen, um die verschiedenen Perspektiven sichtbar zu machen – im virtuellen Meeting kann die Moderation noch weniger Körpersprache-Signale wahrnehmen. Die Beiträge und Gesprächsanteile sind dann häufig noch ungleicher verteilt als in analogen Meetings)
- Gemeinsamer Check-In und Check-Out, um präsent zu werden und Reflexion einzuladen (kulturbildend!)
Nützliche Tools
- Für die Videokonferenz: Zoom (oder andere Videokonferenz-Tools, zB Skype, Google Hangout, Go-to-meeting, etc.)
- Für die Arbeitsfläche: Miro (oder andere White Board Tools mit virtuellen Post-its und Strukturierungsmöglichkeiten wie Mindmaps, Break-Down-Structures, Prozessdiagrammen etc.)
Auf Geschäftsmodell- und Innovationsmeetings komme ich in einem gesonderten Beitrag zu sprechen, sonst wird das hier zu lang. Auch Großgruppen-Veranstaltungen lassen sich im Prinzip virtuell abbilden. Das Presencing Institute führte sein u.lab schon einige Male mit zwischen 12.000 und 22.000 Teilnehmenden durch – mit Tools wie den hier vorgestellten (wobei das die offiziellen Zahlen sind, in den Live-Veranstaltungen, die ich persönlich miterlebt habe, waren nie mehr als 300 TN zur gleichen Zeit anwesend).
Zum Schluss noch einen Disclaimer: wir stehen mit keinem der erwähnten und verlinkten Anbieter von Software-Lösungen in irgendeiner besonderen Beziehung. Alle Tools, die wir selbst einsetzen, bezahlen wir regulär. Mit Sicherheit gibt es noch viele andere, gleichwertige, vielleicht bessere Tools als die genannten.
Passende Buchempfehlungen
(wer sie noch nicht kennt – mögen sie das erzwungene Couching versüßen:)
- Laloux, F.: Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2015
- Scharmer, O.: Theorie U – Von der Zukunft her führen, 2009
- Beck, D., Cowan, C.: Spiral Dynamics. Leadership, Werte und Wandel. 2007
- Robertson, Brian: Holacracy: ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt, 2016
- Kegan/Lahey: Immunity to Change. How to Overcome it and Unlock the Potential in Yourself and Your Organization. 2009.
- Kegan/Lahey: An Everyone Culture: Becoming a Deliberately Developmental Organization. 2016
- Allen, David: Wie ich die Dinge geregelt kriege (Getting Things Done): Selbstmanagement für den Alltag. München/Berlin, 2015