Im letzten Teil unserer Unic-Reihe ziehen wir noch einmal Bilanz. Im Dezember 2016 hatte die Geschäftsführung von Unic sich dazu entschlossen, das Unternehmen auf Holacracy umzustellen. Ein Jahr später haben wir nachgefragt, wie diese Entscheidung heute bewertet wird und was in der Zeit der Transformation gut gelaufen ist oder herausgefordert hat. Für uns als Xpreneurs waren dabei besonders die Erfahrungen interessant, aus denen neue Ideen entstehen konnten, die wir in unserer zukünftigen Arbeit umsetzen möchten.
Dies ist der vierte und letzte Teil einer Fallstudie zur Einführung von Holacracy bei Unic. Die weitere Teile können über folgende Links erreicht werden:
- Teil 1: Holacracy bei Unic – die Suche
- Teil 2: Holacracy bei Unic – Pre-Launch
- Teil 3: Holacracy bei Unic – Der Sprung ins kalte Wasser
- Teil 4: Holacracy bei Unic – Die Praxis im Alltag entwickeln
Wer anfangs dachte, mit Holacracy würden einfach ein paar andere Meeting Formate eingeführt werden und die Bezeichnung “Job”durch “Rolle”ersetzt, merkte recht schnell, dass die Umstellung auf Holacracy viel tiefer ging. Herkömmliche Strukturen wurden auf den Kopf gestellt und Verhalten, das jahrelang gelernt und praktiziert worden war, sollte nun … umgelernt werden?!? Mehr Autonomie und Entscheidungsfreiheit war versprochen worden, aber plötzlich gab es auch Unsicherheiten und Zweifel. An was sollten die Mitarbeitenden sich nun orientieren und wie ihre Projekte strukturieren? Wer trägt eigentlich die Verantwortung, wenn etwas schief läuft? Die Person in der jeweiligen Rolle?
Rückblick
Bei Unic wird nun seit beinahe einem Jahr Holacracy praktiziert und es wäre wohl aussergewöhnlich, wenn es dort nicht auch die ein oder andere kritische Stimme gegeben hätte. Unterm Strich wurde Holacracy sehr gut angenommen. “Natürlich gab es vereinzelt auch mal die Frage, warum wir das eigentlich machten,”erzählt Ivo Bättig in einem Interview, “doch stand es nie wirklich zur Debatte, die Transformation abzubrechen. Zudem haben wir uns ja auch im Vorfeld das WARUM sehr gut überlegt und hatten daher auch genug Antworten auf solche Fragen.”Die Umstellung war mit einem enorm grossen Aufwand verbunden, klar. Doch auch nach einem Jahr waren diejenigen, die sich für die Einführung von Holacracy entschieden hatten, immer noch davon überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Das belegen auch Auswertungen der Universität Bern, die Unic wissenschaftlich begleitet, in regelmässigen Abständen Umfragen unter den Mitarbeitenden durchführt und die Stimmung und Akzeptanz gegenüber Holacracy misst. Insbesondere in der vergangenen Umfrage äusserte sich ein Grossteil der anonym Befragten positiv. Ein Grund dafür mag sein, dass die Mitarbeitenden bei Unic “den Prozess […] extrem schnell im Griff [hatten]”, sagt Ivo Bättig. Trotzdem gäbe es auch sehr negative Stimmen. Für Ivo Bättig ist das aber bei einer derart grossen Veränderung nicht weiter verwunderlich. Wo anfangs ein extrem grosser Respekt vor der Vielzahl der Kreise und Rigidität der Regeln herrschte, begriffen die meisten Mitarbeitenden die Abläufe sehr schnell und leben seitdem danach. Ja, Ivo Bättig erzählt sogar von Aussenstehenden, die sich fasziniert darüber äussern, mit welcher Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit heute die Regeln und Meeting Formate beherrscht werden.
Bei Unic hatte die Umstellung auf Holacracy zu einer anderen Herangehensweise geführt, auch herausfordernde Themen zu bearbeiten. Ivo Bättig stellt fest, dass es nun möglich sei, extrem schnell Entscheidungen zu treffen und sich das Tempo so erhöht hätte, wie es vorher nicht möglich gewesen war.
Natürlich ist die Akzeptanz von Holacracy auch stark davon abhängig, wie gut es in einem Unternehmen ganz grundsätzlich läuft. Es gibt Unternehmen, die erhoffen sich durch die Einführung eines neuen Organisationsmodells einen positiven Schub an Produktivität und Attraktivität. Dies kann durchaus der Fall sein, denn Mitarbeitende erhalten durch Holacracy mehr Möglichkeiten, mitzugestalten und ihre Motivation in konkreten Taten umzusetzen. In solch einer Situation fällt es mit Sicherheit auch leichter, sich auf das Neue einzulassen oder mit der notwendigen Disziplin die neuen Prozesse zu üben.
Anders sieht das bei Unternehmen aus, die sich aktuell in einer herausfordernden Phase befinden. Anstatt den erhofften Aufschwung zu generieren, merken solche Unternehmen recht schnell, dass sich gewisse Probleme auch nicht durch ein neues Organisationsmodell lösen lassen. Vielmehr entstehen zusätzliche Unsicherheiten, denn neben der Energie, die für die Problemlösungen auf operativer Ebene nötig ist, erfordert es nach einer Umstellung auf Holacracy noch weitere Energie, um sich auf organisationaler Ebene die neuen Arbeitsweisen anzueignen.
Für uns als Coaches ist es nachvollziehbar, dass Mitarbeitende in solch einer Situation für sich abwägen, welchen Aufgaben sie mehr Gewicht zumessen: Investieren in das Lernen von Holacracy oder das sich mehrheitliche Beschäftigen mit den Themen, die nicht so gut laufen – auch wenn diese in erster Linie nichts mit Holacracy zu tun haben. Als Berater weisen wir jedoch auch immer auf Folgen hin, wenn das Entwickeln einer reifen Holacracy-Praxis zugunsten einer starken Konzentrierung auf das Alltagsgeschäft vernachlässigt wird.
Das Heikle an einer ungeübten Holacracy-Praxis ist, dass sich wieder alt bekannte Schattensysteme und informelle Arbeitsweisen einschleichen. All die Klarheit und das Explizit-machen von Erwartungen kann so wieder verloren gehen. Dann werden in Meetings eher belanglose Punkte behandelt und die wirklich wichtigen Spannungen an der Kaffeemaschine bearbeitet. Dabei geht auch ein hohes Mass an Transparenz verloren, wenn nämlich die Projekte und Aktionen nicht mehr im firmeninternen Dokumentationssystem (wie z.B. holaSpirit) festgehalten werden. Hätte man sich den ganzen Aufwand mit der Umstellung dann sparen können?
Holacracy ist mehr als ein neues Set an Regeln und Meeting Formaten, das kognitiv schnell verstanden und umgesetzt werden kann. Das Bedeutsame hinter Holacracy ist der Change Prozess, der ausgelöst wird und der tiefgreifende Veränderung im individuellen Verhalten und in der Unternehmenskultur bewirkt.
Die Sache mit der Kultur
Laut Sonja A. Sackmann ist Unternehmenskultur der “Bestandteil der Routine oder Gewohnheiten, die im alltäglichen Arbeitsprozess bei der Wahrnehmung, im Denken, Handeln und Fühlen unreflektiert zu Tage kommen”. Das heisst unser Tun und Handeln ist geprägt von einem sozialen System und den Entscheidungen innerhalb dieses Systems. Das beginnt schon im frühen Alter. Nehmen wir z.B. unser Schulsystem: in den meisten Fällen hängt der persönliche Erfolg davon ab, wie gut wir die Anforderungen erfüllen, die uns ein Lehrer oder Lehrplan vorgibt. Auch im späteren Berufsleben ändert sich prinzipiell daran nicht viel. Nun sind es nicht mehr die Lehrer, sondern die Chefs, die das letzte Wort haben und darüber entscheiden, wie unsere Arbeit bewertet wird.
Genau das prägt die Art und Weise, wie wir unsere Arbeit erledigen oder Entscheidungen treffen. Holacracy verändert dieses System radikal. Ehemalige Entscheidungsträger geben ihre Entscheidungsmacht ab und Mitarbeiter erhalten die volle Autorität, innerhalb ihrer Rollen selbst-verantwortlich zu handeln und Entscheidungen selbst zu treffen. Was aber bedeutet das für den einzelnen? Plötzlich muss jeder, der eine Entscheidung getroffen hat, dafür auch die Verantwortung tragen, egal ob sie sich als gut oder schlecht herausstellt. Es erfordert Mut, eine Entscheidung zu fällen oder einen Standpunkt zu beziehen – vielleicht würden andere es sogar anders machen.
Ivo Bättig erzählt von einem “Macht-Vakuum”, das zeitweise bei Unic entstanden ist. Die ehemaligen Chefs haben sich zurückgenommen, diejenigen, die bisher prägten und mit Initiative vorangeschritten sind, wollten (und durften) nicht mehr wie klassische Chefs agieren. Aber es kamen zu wenig andere nach, die übernahmen, Initiative ergriffen oder Themen und Projekte antrieben. Ob es daran lag, dass sich einzelne nicht trauten, nicht wussten, wie sie es machen sollten oder nicht gefragt wurden, die Gründe sind unterschiedlich. Unic machte die Erfahrung, dass es eine gewisse Zeit dauert, bis Mitarbeitende Verantwortung übernehmen. Für Ivo Bättig ist das verständlich, denn es “[war] ihnen bisher ja quasi immer vermittelt worden: das sollten sie nicht machen und nun sagt man, warum macht ihr nicht?”
Kultur – auch eine Unternehmenskultur – verändert sich nicht von heute auf morgen. Es findet ein Wandel der Art und Weise statt, wie Verantwortung innerhalb von Rollen wahrgenommen wird.
“Leadership”und Führung wird dabei ein ganz zentrales Thema und zwar in zweierlei Richtungen. Es geht zum einen darum, sich selbst führen zu können, seine eigenen Projekte zu organisieren, zu priorisieren und voranzubringen. Zum anderen geht es aber auch um die Energie, die einzelne nach Aussen entfachen, ob und wie sie etwas bewegen. Ein Unternehmen braucht also nicht notwendigerweise herkömmlichen Manager, um erfolgreich zu sein, aber es braucht “Zugpferde”, um neue Ideen zu verfolgen und die Firma weiterzuentwickeln.
Die Tragweite des Kulturthemas ist vielen zu Beginn nicht in dem Ausmass bewusst. Ivo Bättig erzählt, dass sich die meisten bei Unic primär auf den Prozess, also die neuen Meeting Formate und das Arbeiten in Rollen, fokussiert hatten. Dies sei allerdings nur der Anfang: “die ganze Veränderung, wie du mit der Verantwortung umgehst und mit der Selbstorganisation […], das sind alles Themen, die erst später aufkommen.”
Was wir daraus gelernt haben
Aus den Erfahrungen mit Unic nehmen wir für uns zwei wichtige Gedanken mit: Als erstes werden wir Entscheidungsträger in der Überlegungsphase noch stärker herausfordern und betonen, was für ein bedeutender Schritt solch eine Umstellung sein wird. Es geht darum, mit einer wirklichen Überzeugung hinter der Entscheidung stehen zu können, weil der Aufwand und die Veränderung zu gross sein wird, ihn nur halbherzig zu tun: “Seid ihr euch bewusst, was das heisst? Seid ihr dafür bereit?”Auch wenn das ein Risiko mit sich bringt, dass sich vielleicht ein Kunde im letzten Moment anders entschliesst. Aber auch Ivo Bättig betont im Gespräch, dass es enorm wichtig sei, das Top-down-Committment sicherzustellen. Denn man könne spüren, wenn ehemalige Führungskräfte nicht hinter der Entscheidung stünden.
Als zweites werden wir von Beginn an noch stärker explizit auf das Kulturthema hinweisen und auf die Tatsache, dass Holacracy mehr bedeutet, als klare Regeln zu befolgen oder Meetings in einem bestimmten Format abzuhalten. Es wird ein Change Prozess in Gang gesetzt, in dem bisher erlerntes Verhalten neu gelernt werden muss. Die geschieht in verschiedenen Phasen und nicht alles, was während der Transformation auf ein Unternehmen zukommt, ist von Anfang an klar vorherzusehen. Den Holacracy Prozess haben viele recht schnell und nach etwa 6 Monaten im Griff. Kulturthemen hingegen können ein Unternehmen mindestens 3-4 Jahre beschäftigen. Wir als Berater begleiten Unternehmen gerne auch in den späteren Etappen der Transformation und haben verschiedene Methoden und Konzepte, um den Kulturwandel sichtbar zu machen und entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse zu bearbeiten. Wenn wir unsere Kunden von Anfang an auf diese Kulturthemen aufmerksam machen, können diese entsprechend ihr Budget planen und Gelder für spätere Beraterinterventionen bereithalten.