Dieser Artikel beschreibt, wie Startups auf das Bedürfnis nach mehr Struktur durch Kenntnis echter Alternativen zur konventionellen Hierarchie antworten können und wann ein guter Zeitpunkt für einen bewussten Wechsel des Betriebssystems ist.
Für die meisten Startups gibt es offensichtliche Phasen in ihrer Entwicklung, an denen grundlegende Weichenstellungen erfolgen müssen. Zu Anfang treffen sich die Gründer*innen vielleicht an der Uni, oder tun sich mit Freunden zusammen, um eine Geschäftsidee zu erkunden. Nach einer gewissen Zeit des Experimentierens wird bei allen, die nicht schon in der Anfangsphase scheitern (was in der Regel die meisten sind), eine Phase erreicht, in der die Passung zwischen dem Produkt und den Marktbedürfnissen (product market fit) immer größer wird.
Wie kann man herausfinden, ob das bereits der Fall ist? Ganz einfach: die Tatsache, dass man diese Frage überhaupt stellt, heißt, dass die optimale Passung mit Sicherheit noch nicht erreicht ist. Denn sobald sie besteht, gibt es einen unverkennbaren Sog des Marktes, der durch das gesamte Unternehmen zieht und dafür sorgt, dass die Organisation rapide wächst, um den Anforderungen gerecht zu werden. Für Organisationen in der Wachstumsphase gilt, dass sie eher an Verstopfung statt an Hunger sterben. Es gibt zu viele Gelegenheiten und es besteht die Gefahr, zu viel vom Kuchen abzubeißen. Das Team muss in relativ kurzer Zeit wachsen, um mit der steigenden Nachfrage Schritt halten zu können.
„Hilfe, wir brauchen Struktur!“
Hier treten die Startup Gründer*innen dann in ein wohlbekanntes Dilemma ein: Mit fortschreitender Anzahl von Menschen, die ins Team kommen, steigt die Komplexität des Netzwerks dramatisch an und spätestens ab 50 Leuten wird deutlich, dass es strukturell irgendwelcher Zwischenebenen und Hierarchien bedarf, um nicht komplett den Überblick zu verlieren. Gleichzeitig stellt das gefühlt die Grundlage des bisherigen Erfolgs, die Agilität, die zwischenmenschliche Nähe und Lockerheit, sowie das Empfinden, Teil einer coolen, selbstgewählten Familie zu sein, radikal in Frage.
Doch das Problem nicht haben zu wollen, löst es letztlich nicht. „Was soll”s, am Ende haben ja eh keine Wahl – also her mit den hauptamtlichen Führungskräften, Manager*innen, ”Head-of's”, etc.“, sagt man sich pragmatischerweise als Gründer*in und lässt dem Schicksal seinen Lauf, während man sich hoch und heilig schwört, dass man „dienende Führung“ und andere hochtrabende Führungsideale praktizieren, und sich niemals von der dunklen Seite der Macht verführen lassen wird. Viel Glück!
Eine Wahl, die keine ist
Die Entscheidung für die klassische Management-Hierarchie ist genau genommen keine wirkliche Entscheidung, denn eine Entscheidung setzt voraus, dass ich aus mindestens zwei gangbaren Alternativen wählen kann. Die Organisation ins heillose Chaos abgleiten zu lassen ist aber keine gangbare Alternative und so bleibt den meisten Startups nur das Motto „Augen zu und durch“ und der Organisation die ungeliebte Management-Hierarchie mit ihren eigenartigen zwischenmenschlichen Verstrickungen überzustülpen und zu hoffen, dass am Ende alles gut geht.
Die frohe Botschaft dieses Artikels lautet: es gibt übrigens eine gangbare Alternative zur klassischen Management-Hierarchie und daher gibt es auch eine echte Wahl, sofern man sich dieser Alternative bewusst ist. Sie nennt sich Selbst-Management, bzw. Selbstorganisation und gewinnt zunehmend an Sichtbarkeit. Doch leider ist der Großteil der Unternehmen diesbezüglich immer noch relativ ignorant, bzw. traut sich (noch) nicht, neue Wege zu beschreiten.
Eine echte Alternative: Selbst-Management mit Holacracy
Die Variante von Selbst-Management, die wir bei Xpreneurs favorisieren, nennt sich Holacracy. Es ist eine robuste peer-to-peer Praxis der verteilten Autorität ohne klassische Manager, die seit 2006 durch Brian Robertson und die Firma HolacracyOne entwickelt und in inzwischen tausenden Organisationen weltweit praktiziert wird. Die Regeln dieser Praxis sind in der sogenannten „Holacracy Verfassung“ kodifiziert. Das Ziel dieses Artikels ist es nicht, Holacracy zu erklären (das kann man an vielen anderen Stellen nachlesen, z.B. hier), sondern die Tatsache hervorzuheben, DASS eine realistische Alternative zur klassischen Hierarchie existiert, für oder gegen die man sich ernsthaft entscheiden kann. Das macht die klassische Management-Hierarchie nicht länger alternativlos und die Entscheidung zu einer echten Wahl zwischen zwei gangbaren Alternativen.
Das Problem des richtigen Timings
Mal angenommen, dass Selbst-Management im Stil von Holacracy als die richtige Wahl gesehen wird – wann sollte man das alternative Betriebssystem in der Organisation einführen? Man kann grob drei Phasen unterscheiden: 1) die naive Anfangszeit, in der alle Teil einer Happy Startup Family sind; 2) die Phase, in der die Passung zwischen Produkt und Markt optimiert wurde, was zu einem Wachstumsschub und erhöhter Komplexität führt; und 3) eine Konsolidierungsphase, in der die Organisation ihr Wachstum strukturell verdauen muss (wenn sie nicht an Verstopfung zugrunde gehen will).
Phase 1: Happy Startup Family
In Phase 1 ist meist noch nicht das Bewusstsein vorhanden, dass das aus einem Wachstumsschub (in 2) resultierende Strukturierungsbedürfnis kommen wird. Man denkt, man könnte ewig in der Garagenmentalität mit Freunden als Happy Family zusammenarbeiten. Obwohl es ideal wäre, in dieser Phase die Organisation schon auf einem zukunftsfähigen Fundament mit einem Holacracy-Betriebssystem aufzubauen, so stehen doch zunächst eher andere Dinge im Vordergrund:
- die Hypothese verifizieren, dass die Produkte der Organisation gebraucht werden
- Geldströme erschließen, um eine finanzielle Startbahn zu haben, die lang genug ist, um ein Produkt zur Marktreife zu bringen
- die richtigen Leute mit den benötigten Kompetenzen ins Boot holen
In Phase 1 ist weder der Bedarf nach Selbst-Management hoch, denn man arbeitet ja noch groovy mit seinen Kolleg*innen auf Augenhöhe (und jede*r macht irgendwie alle Aufgaben mit), noch sind die finanziellen Ressourcen üppig genug, um ein gründliches Holacracy Training und eine professionelle Begleitung zu stemmen. Das wird also meistens als keine gute Zeit erlebt.
Gleichzeitig verpasst man hier substanzielle Vorteile. Sobald sich die Fragen stellt, welche Arbeit eigentlich zu tun ist, wer sich dann regelmäßig darum kümmert und wer welche Entscheidungen trifft, hätte man die Möglichkeit, durch Holacracy einmal grundsätzlich zu regeln, nach welcher Handlungslogik diese Fragen adressiert werden sollen. Die meisten Startup-Gründer*innen lassen hier unbewusst und unbeabsichtigt eine Praxis entstehen, die ihnen später schaden wird und vor der sie oft ganz explizit "geflüchtet" sind. Das ist die Ironie der Sache.
Phase 2: Marktreife
Auch in der Phase der Marktreife (2), per Definition eine Sturm-und-Drang Phase, ist ein radikaler Wechsel des Organisations-Betriebssystems nicht angezeigt, denn ein solcher benötigt die Investition eines Mindestmaßes an Zeit und Aufmerksamkeit. Das ist aber hier nicht vorhanden, denn das Telefon steht gerade einfach nicht still. Zudem macht sich der sprunghafte Anstieg der Komplexität erst gegen Ende der Wachstumsphase bemerkbar, wodurch auf einmal das Strukturdefizit akut wird. Auch das wird gemeinhin nicht als günstiger Zeitpunkt erlebt.
Doch anders betrachtet, ist das der erste echte Stresstest für das Unternehmen. Wenn man hier bereits auf eine solide Selbst-Management-Praxis aus der Anfangsphase aufbauen kann, ist die Wahrscheinlichkeit gut, dass deutlich weniger Kollateralschaden entsteht.
Phase 3: Konsolidierung
In Phase 3 hat man den ersten Kund*innenansturm gemeistert und den Strukturbedarf erkannt: „Hilfe, wir brauchen Struktur!“. An dieser Stelle nehmen die meisten Gründer*innen die Ausfahrt in Richtung klassischer Management-Hierarchie. Doch, wie wir zuvor gelernt haben: man kann auch andere Wege beschreiten und einer wachsenden Zahl von Pionierunternehmen aus aller Welt in Richtung Selbst-Management folgen. In Phase 3 hat man hinreichend Ressourcen, man hat ein funktionierendes Produkt und man weiß, dass sich eine passende Organisationsstruktur nicht von selber strickt. Von diesem Plateau aus kann man sich entweder passiv mit dem Strom der traditionell hierarchisch organisierten Firmen mittreiben lassen, oder aber seine Organisation komplett neu mit Selbst-Management aufgleisen.
Fazit
Wer Startup Qualitäten wie große Agilität, dezentrale Entscheidungen, maximale Autonomie und Arbeit auf Augenhöhe wertschätzt und skalieren, nicht aber auf Rollen- und Prozessklarheit verzichten will, für den ist ein konsequentes Selbst-Management-System wie Holacracy spätestens in der Konsolidierungsphase eine spannende Option, mit der man sich ernsthaft befassen sollte.
Wer allerdings konsequent vorausdenkt, der berücksichtigt die Frage der Systemwahl von Beginn an, denn irgendwann stellt sie sich zwangsläufig ganz von selbst. Je früher man Alternativen einübt, desto leichter fällt es, ein neues Muster der Zusammenarbeit zu etablieren, das dann letztlich auch dem Einwirken neuer Kräfte auf die Organisation (z.B. Berater*innen, neue Kolleg*innen, VCs) standhalten kann, ohne dass man rein reaktiv auf das Bedürfnis nach Struktur mit der Etablierung einer Management Hierarchie antwortet, weil “so halt eine professionelle Organisation gemacht wird” (oder wie auch immer argumentiert wird).
Im Gegenteil: Die traditionelle Management-Hierarchie ist kein Schicksal, das man erdulden muss. Aber eine echte Entscheidung hat man erst, wenn man echte Alternativen kennt.
Eine englische Übersetzung dieses Artikels ist im offiziellen Blog von HolacracyOne unter dem Titel "Choosing Your Startup”s Operating System" erschienen