Methoden sind hilfreich. Sie sind wie ein ein Rezept, das die Lektionen kodiert, die andere gelernt habe und uns dabei hilft, häufige Fallstricke zu vermeiden. Sie bergen allerdings auch ein Risiko. Wir neigen dazu, an unseren Methoden anzuhaften, welche uns für all dasjenige blind machen, was nicht hineinpasst.
Ich spreche aus Erfahrung. 2007 entdeckte ich Holacracy, eine Methode, um eine Organisation auf andere Weise zu betreiben (heutzutage nennt man das Selbstorganisation oder Selbstmanagement). Ich bin voll eingetaucht. Ich wurde ausgebildet, schrieb ein Buch (Niederländisch, Englisch), und ich mitbegründete eine Firma.
Ich wurde einer dieser nervtötenden Evangelisten, die glauben, dass ihre Methode die Antwort auf jedes Problem darstellt. Meine Kolleg*innen und ich halfen über hundert Firmen dabei, Holacracy einzuführen. Und irgendwo entlang des Weges mit vielen Höhen und Tiefen wuchs ich über meinen Fundamentalismus hinaus.
Die Geschichte von Holacracy in der Welt ist hingegen immer noch sehr binär: entweder du liebst es oder du hasst es. Es gibt eine Menge Kritik, dass Holacracy rigide, komplex und unmenschlich ist, und an manchen Dingen ist etwas dran.
In dieser Artikelserie will ich mehr Nuancen in die Geschichte bringen, um aus einer Position der intellektuellen Aufrichtigkeit und hart erarbeiteter Erfahrung die Stärken und Schwächen von Holacracy zu beleuchten, sowie dessen Grenzen.
Ein Ordnungsrahmen, keine Blaupause
Lass uns damit beginnen, eine der häufigsten Kritiken zu erkunden: Holacracy ist rigide.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Spielarten der Selbst-Organisation ist Holacracy eine regelbasierte Methode. Diese Regeln sind in der Holacracy Verfassung dokumentiert und umfassen etwa 15 Seiten (in der letzten Version 5.0, und davor sogar noch mehr). Wenn Organisationen Holacracy einführen, dann ”ratifizieren” (unterschreiben) sie dasselbe Regelset, unabhängig von Größe, Branche, Kultur, Sinn und Zweck (Purpose), etc.
Klingt wie ein rigider ”one-size-fits-all” Ansatz, nicht wahr?
Tja, nein. Holacracy ist ein Ordnungsrahmen, keine Blaupause. Die Verfassung sagt dir nicht, wie du deine Organisation strukturieren sollst. Stattdessen gibt sie dir die Bausteine und Prozesse (Werkzeuge), um herauszukriegen, wie du deine Organisation strukturieren solltest.
Oder, genauer gesagt, um eine systematische und partizipative Suchbewegung nach der Struktur und den Vereinbarungen zu beginnen, welche an jedem beliebigen Zeitpunkt am geeignetsten für den Sinn und Zweck deiner Organisation sind. Es ist keine Blaupause, ein Rezept oder eine IKEA Bauanleitung, es ist ein Werkzeugkasten.
Hier ein Beispiel: Im Holacracy Werkzeugkasten wirst du ”Kreise” und ”Rollen” finden. Diese Konstrukte sind Teil der Sprache der Muster, die Holacracy einführt, um die komplexen Systeme abzubilden, die wir eine Organisation nennen.
Die Verfassung stellt eine Definition dafür bereit, was diese Konstrukte sind und wie sie sich verhalten. Sie schreibt dir nicht vor, wie viele Kreise und Rollen du haben solltest, noch ob du Rollen geografisch, funktional, anhand von Kund*innen, nach Produkt oder Dienstleistung in Kreisen, etc. gruppieren solltest.
Das musst du selber rausfinden und jede Organisation wird exakt dieselben Bausteine benutzen, um eine komplett einzigartige Struktur zu erzeugen.
Ein leerer Ordnungsrahmen
Also ist Holacracy ein Ordnungsrahmen, keine Blaupause, und es ist ein leerer Ordnungsrahmen. Es ist agnostisch, d.h. es schreibt keine besonderen Qualitäten oder Ziele für das Design deiner Organisation vor. Das einzige Ziel ist der Sinn und Zweck der Organisation: Was immer uns ihm näher bringt, ist ”gut” und was ihm im Wege steht, ist ”schlecht”.
Noch nicht einmal Selbstorganisation ist ein Ziel an und für sich in Holacracy. Wenn du willst, dann kannst du die Werkzeuge und Bausteine von Holacracy nutzen, um eine unglaublich bevormundende Management-Hierarchie zu erschaffen (z.B. mit Rollen, die dafür verantwortlich sind, anderen Rollen zu sagen, was sie zu tun haben). Mit einem Vorbehalt: das wird nur funktionieren, wenn es tatsächlich dem Sinn und Zweck der Organisation dient.
Es lohnt sich zu wiederholen: Holacracy ist ein systematischer, partizipativer und niemals endender Suchprozess nach einer Struktur, die am geeignetsten für den Sinn und Zweck deiner Organisation ist.
Zu flexibel, nicht zu rigide
Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Meiner Ansicht nach ist das Problem von Holacracy nicht, dass es zu rigide ist. Das Problem ist, dass es zu flexibel ist.
Anders gesagt: Der Gestaltungsraum, der sich durch Holacracys Bausteine und Werkzeuge eröffnet, ist zu groß, nicht zu klein. Ich glaube das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum es so viel Verwirrung darüber gibt: Es ist schwierig etwas zu verstehen, das derart flexibel ist.
Diese einfache Sprache der Muster von Kreisen und Rollen (jeweils mit einem Sinn und Zweck und expliziten Verantwortlichkeiten) kann genutzt werden, um eine Menge verschiedener Strukturen abzubilden. Von der bevormundenden Management-Hierarchie, die ich gerade erwähnt habe, bis hin zum Spotify Modell, und von großen Online Retailern [Zappos und BOL], bis hin zu rasch wachsenden, agilen Dienstleistern, wie Viisi und Voys.
Wenn rigide gut und flexibel schlecht ist
Um zusammenzufassen: Eine geläufige Kritik an Holacracy ist, dass es zu rigide ist und ich argumentiere, dass es allenfalls zu flexibel ist.
Das mag klingen, als sei rigide schlecht und flexibel gut, also möchte ich mit einer nuancierteren Note enden. Rigide und flexibel sind zwei Seiten einer Polarität und Polaritäten lassen sich niemals auflösen – sie können nur auf bewusste und kontinuierliche Weise navigiert werden.
Wenn du eine Menge Flexibilität (Agilität, Responsivität) in deiner Organisation willst, dann wirst du zugleich verdammt rigide (fest, unnachgiebig) in Bezug auf deinen Sinn und Zweck und deine Grenzen werden müssen. Ebenso ist Holacracy unglaublich flexibel, nicht trotz seiner rigiden Regeln, sondern wegen ihnen.
Es ist wie Verkehr: Wir genießen eine erstaunliche Freiheit und Flexibilität in Bezug darauf, wie wir von A nach B fahren, nicht trotz der Tatsache, dass wir rigide Strukturen und Regeln haben (Straßenmarkierungen, rechts vor links), sondern wegen ihnen.
Lass uns zum Schluss also mit einer Würdigung an die Rigidität enden, dafür dass sie es uns erlaubt, immer freier und flexibler darin zu werden, wie wir unsere komplexe Welt navigieren!
Dies ist ein Gastbeitrag von Diederick Janse, Mitbegründer von Energized.org, eine Kooperative, die Organisationen bei ihrer Reise in Richtung Selbstmanagement unterstützt. Er wurde erstmals veröffentlicht am 07.04.2022 via Corporate Rebels.
Übersetzung: Dennis Wittrock, Xpreneurs, mit freundlicher Genehmigung des Autors.