Holacracy im Alltag: Wie funktioniert eigentlich…  Powershift

Daniela Spielmann

Im Kontext von Selbstorganisation ist immer wieder vom "Powershift" die Rede. Was bedeutet dieser Begriff eigentlich? Mit Powershift ist die Verlagerung oder Verschiebung von Macht gemeint. Im Kontext von Holacracy geht es konkret um die Verlagerung der Macht in einer Organisation von einzelnen Menschen (Führungsebene) zu Rollen. Diese haben die volle Autorität und Verantwortung bestimmte Arbeiten für den konkreten Sinn und Zweck der Rolle ausführen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von Stewardship jedes Einzelnen, was soviel heisst wie, Verantwortlichkeit ohne Kontrolle und Überwachung. Auf den ersten Blick klingt das einfach, und für viele Mitarbeitende befreiend, im Alltag kann es allerdings sehr herausfordernd sein. In diesem Artikel gehen geht es um die Hintergründe und Herausforderungen des Powershift in Holacracy Organisationen.

Findet eine solche Verschiebung der Macht statt, sind zwei Gruppen von Menschen in Organisationen auf unterschiedliche Weise vor Herausforderungen gestellt. Zum einen sind da alle Mitarbeitenden ohne Führungsfunktion, die plötzlich mehr Autonomie und Verantwortung erhalten. Auf der anderen Seite sind ehemalige Führungskräfte, deren Arbeit sich grundlegend verändert. Auch sie erhalten die Autorität und Verantwortung über ihre Rollen, wie alle anderen Mitarbeitenden auch, aber nicht mehr über andere Personen. Die Einführung von Holacracy initiiert einen tiefgreifenden Wandel in einer Organisation und aller Menschen in ihr, der neben der strukturellen Veränderung (Kreisstruktur, klare Regeln der Verfassung, Meetingprozesse) auch grossen Einfluss auf die Kultur hat. Viele bekannte Muster müssen verlernt und neue gelernt werden. Gerade dieser kulturelle Wandel wird bei der Einführung von Holacracy oft unterschätzt.

Mehr als Empowerment der Mitarbeitenden

Die Einführung von Holacracy ändert für die meisten erstmal nichts an ihren täglichen, operativen Aufgaben. Allerdings verändert sich der Handlungsspielraum und die Verantwortungsübernahme grundlegend. Plötzlich alle Entscheidungen, welche die Arbeit in der Rolle benötigt, selbst treffen zu müssen und für diese auch die Verantwortung zu übernehmen, erfordert Mut und kann sehr herausfordernd sein. In den heutigen Hierarchien sind wir es gewohnt, dass jede Entscheidung von der Führungskraft abgesegnet wird. Dies kann lästig sein, aber die Führungsperson trägt somit auch die Verantwortung, wenn sich eine Entscheidung als falsch oder problematisch herausstellt. Viele Mitarbeitende glauben in der Holakratie alle Entscheidungen ganz alleine treffen zu müssen und können sich dadurch überfordert fühlen.. Die Holacracy Verfassung verbietet es nicht andere um Rat zu fragen, sie definiert aber klar, dass die Entscheidung von der Rolle getroffen werden muss, die eine Verantwortlichkeit dafür besitzt. Rat darf jederzeit eingeholt werden, direkt bei einer Person mit entsprechendem Know-how oder auch vom Kreis während der Tactical Meetings. Ein Rat muss dann auch nicht befolgt werden, der Rolleninhaber oder die Rolleninhaberin entscheidet, welche Informationen er / sie berücksichtigen will. Diese anfängliche Unsicherheit kann zu einem “Macht-Vakuum”führen wie es Ivo Bättig in einem Interview für die Blogreihe zur Einführung von Holacracy bei Unic, ausdrückt. Das heisst, dass plötzlich niemand Entscheidungen treffen möchte und daher Projekte und Themen nicht mehr voran kommen. Die ehemaligen Führungskräfte nehmen sich zurück und möchten sich nicht mehr wie klassische Chefs verhalten, es kommt aber niemand nach, der die Initiative ergreift oder Projekte voran treibt. Es kann also durchaus eine gewisse Zeit dauern, bis Mitarbeitende Verantwortung proaktiv übernehmen. Dies ist völlig normal und gehört zum Prozess. Bei einer begleitenden Einführung gehört es zum Prozess diese persönliche Entwicklung zu unterstützen.

Keine Führungskraft mehr - was nun?

Ehemalige Führungskräfte kämpfen je nachdem mit dem gegenteiligen Effekt. Macht- und Kontrollverlust können ebenso beängstigend sein, wie die plötzliche Verantwortungsübernahme. Zusätzlich verändert sich die Arbeit für ehemalige Führungskräfte im ersten Moment oft mehr, als für Mitarbeitende ohne Führungsfunktion. Denn die Aspekte von Führungsarbeit, wie Planung, Kontrolle und die Betreuung der Mitarbeitenden fallen weg, bzw. einige Aufgaben werden zu Rollen, welche nicht alle ehemaligen Führungskräfte übernehmen können. Eine Führungskraft ist es gewohnt ein Team, eine Abteilung oder sogar eine Firma zu führen, zu leiten und vorwärts zu bringen. Sie hat mehr oder weniger die Kontrolle darüber. Nun fällt diese Kontrolle, aber auch die Verantwortung weg. Viele Führungskräfte empfinden es als befreiend nicht mehr alle Entscheidungen zu treffen, immer alles im Überblick haben zu müssen und liegen gebliebene Arbeit zu erledigen. Genauso kommen aber bei vielen auch Gedanken auf wie “Wie stelle ich denn nun sicher, dass das Projekt XY rechtzeitig fertig ist?”oder “Meine Mitarbeitenden werden doch nichts mehr tun, wenn ich ihnen nicht sage was zu tun ist und die Deadlines kontrolliere”. Welche der beiden Aspekte im Vordergrund stehen, hängt von der Persönlichkeit der Führungskraft und deren Menschenbild ab. McGregor definierte 1969 das Menschenbild X und Y. Je nachdem ob eine Person ein positives oder negatives Menschenbild hat, wird der Führungsstil dementsprechend beeinflusst. Die Annahmen der Führungskräfte über die Motivation ihrer Mitarbeitenden beeinflusst das Auftreten und die Handlungen ihnen gegenüber, diese Handlungen wiederum führen genau dazu, dass sich Mitarbeitende gemäss den Annahmen der Führungskräfte verhalten. Und dieses Verhalten verstärkt dann seinerseits wieder die Annahmen.

Kurzer Exkurs zu Theory X / Y

Theory X - Der Mensch ist unwillig

Die Theorie X sagt, dass Menschen grundsätzlich nicht gerne arbeiten und versuchen der Arbeit wenn möglich auszuweichen. Das bedeutet, dass der Mensch von Aussen motiviert und angetrieben wird. Daher muss er  kontrolliert und bei Bedarf mit Restriktionen bedroht werden, damit er produktiv wird und einen Beitrag zur Erreichung der Unternehmensziele leistet.

Theory Y - Der Mensch ist engagiert

Die Theorie Y hingegen geht davon aus, dass die Menschen von Natur aus leistungsorientiert sind und ihnen die Arbeit wichtig ist. Sie sind von innen motiviert und streben nach Selbstverwirklichung. Für diese Menschen müssen Bedingungen geschaffen werden, welche die innere Motivation begünstigen. Dies kann durch Selbstbestimmung, Verantwortungsübernahme oder Identifikation mit dem Unternehmen geschehen.

In klassischen Hierarchien (nicht in allen) herrscht tendenziell das Menschenbild X vor. Mit diesen Annahmen, die sich durch den Teufelskreis im Alltag immer wieder bewahrheitet haben, fällt es verständlicherweise schwer, Kontrolle und Verantwortung abzugeben. Die Selbstorganisation geht vom Menschenbild Y aus. In vielen Fällen steckt aber auch etwas ganz anderes als ein negatives Menschenbild hinter den Befürchtungen, dass Mitarbeitende nichts mehr tun werden, wenn sie nicht kontrolliert werden. Genauso gut kann auch die Angst vor einem Statusverlust dahinter stecken. Dann lohnt es sich genauer hinzuschauen und Schritt für Schritt herauszufinden was genau denn die Befürchtungen sind. Die Unterstützung solcher Explorationen gehören bei einer begleitenden Einführung zum Prozess.

Die Krux mit der Lead Link Rolle

Bei der Erstellung der initialen Kreisstruktur werden oft ehemalige Führungskräfte zu Lead Links. Dies kann sinnvoll sein, da viele Fähigkeiten und Kompetenzen, die eine Führungskraft ausmachen, auch als Lead Link von Nutzen sind. Die Besetzung der Lead Link Rolle mit einer ehemaligen Führungskraft kann aber auch die Gefahr bieten, dass sich alte Muster einschleichen und die Lead Link Rolle quasi die neue Führungsfunktion wird. Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig neue Lead Links gut zu schulen und auf die Unterschiede zu einer Führungsfunktion aufmerksam zu machen. Auf der anderen Seite müssen auch alle anderen Kreismitglieder die Verantwortlichkeiten des Lead Links genau kennen. Das Ausfüllen der Lead Link Rolle sollte nicht mehr als 10-15 % einer Vollzeitstelle beanspruchen. Wird deutlich mehr Zeit investiert, kann dies ein Hinweis sein, dass die Rolle falsch ausgelegt, oder gelebt wird. Die unten stehende Tabelle verdeutlicht, welche Aufgaben von einem Lead Link erwartet werden können und welche nicht.

Aufgabe des Lead Link?

ja

nein 

Strategie für den Kreis definieren X
 
Entscheiden / Genehmigen / Veto   X
Spannungen für andere bearbeiten   X
Arbeit priorisieren X  
Einstellung / Kündigung / Lohndefinition   X
Kennzahlen definieren X  
Zuweisen von Rollen und Änderungen in der Zuweisung X  
Übernehmen der Arbeit von unbesetzten Rollen X  
Coachen von Rolleninhabern X
 
Ressourcen verteilen X
 
Arbeit für den Kreis annehmen und entsprechend triagieren X
 
Sagen, wie etwas zu tun ist   X
Holokratie oder Holakratie?
Daniela Spielmann