Wie Holacracy gelingen kann

George Sarpong

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Keine Hierarchien, keine Vorgesetzten, dafür Selbstbestimmung. Was für Mitarbeiter wie eine Utopie klingt, kann für Kader ein Albtraum sein. Wer braucht mich morgen noch, wenn sich die Mitarbeiter selbst organisieren? Auch auf juristischer Seite stellen sich einige Fragen. Wie muss man das Unternehmen organisieren, um dem Obligationenrecht zu entsprechen? Und wie nachhaltig sind Modelle wie Holacracy? Handelt es sich dabei am Ende nur um einen Hype?

Man müsse die Frage umdrehen, findet Patrick Scheuerer, Holacracy-Coach beim Beratungshaus Xpreneurs. «Welches sind die neuralgischen Punkte, die Geschäftsführer dazu bringen, sich mit Holacracy zu beschäftigen?» Scheuerer hört oft ähnliche Geschichten. Eine Organisation kann sich nicht schnell genug an Entwicklungen anpassen.

Hierzu zählen etwa Veränderungen am Markt, Regulationen, Technologien, Kundenwünsche oder interne Impulse. Letztere nähmen exponentiell zu. Organisationen erlebten einen Stau an Entscheidungen, da sie ihre Menge nicht mehr bewältigen können.

Ein Grund ist das Ping-Pong-Spiel beim Entscheidungsprozess. Man eskaliert eine Entscheidung an den direkten Vorgesetzten. Dieser geht eine Stufe höher, kennt allerdings den Kontext nicht und spielt das Ganze zurück. Das führe bei Entscheidern zu Stau und bei Mitarbeitenden zu Frust, da nichts vorwärtsgeht, erklärt Scheuerer. Die Entwicklung führe zum Wunsch nach mehr Verantwortung bei Entscheidern und Mitarbeitern. 

Voraussetzung für Holacracy: Vertrauen und Eigenantrieb

Antoinette Weibel ist Professorin für Personalmanagement am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten an der Universität St. Gallen. Für sie ist Holacracy eine nachhaltige Organisationsform. Allerdings setze der Erfolg von Holacracy zwei Dinge voraus: Vertrauen und intrinsische Motivation.

Welche Leistung sich dadurch freisetzen lässt, erklärt Weibel anhand des französischen Gebäckherstellers Poult. Dort stand man vor der Insolvenz. Um gegenzusteuern, schaffte man verschiedene Führungspositionen ab und involvierte die Mitarbeiter, auch jene am Fliessband. Das Interessante am Beispiel Poult: Statt der Produktionsmitarbeiter verliessen vermehrt Führungskräfte wie Vorarbeiter das Unternehmen. Diese hatten Schwierigkeiten, von Führung auf Coaching umzustellen. Holacracy sei eher schwierig für Führungskräfte mit traditioneller Ausbildung und Machtgespür, resümiert Weibel.

Diese müssten auf ihren Chefposten mit den verbundenen Attributen verzichten. Wie hilft man Führungskräften, die oft auch Machtmenschen sind, sich zu öffnen, auch auf die Gefahr hin, Macht abzugeben? Nicht ganz einfach. Doch eines ist für Weibel klar: «Wen es nicht verträgt im Holacracy-Modell sind Egoisten, Karriereristen und Narzissten.» 

Quelloffene Verfassung

Für Holacracy besteht zwar ein Markenschutz. Wobei zu ergänzen ist, dass die Verfassung für Holacracy Open Source ist, wie Gerhard Andrey, Co-Gründer des IT-Dienstleisters Liip, anmerkt. In der Verfassung ist auch nicht der bestimmte Einsatz von Technik vorgesehen.

Prinzipiell können die Governance Records auch mit Papier und Stift dokumentiert werden, wie Scheuerer ergänzt. Die Holacracy-Verfassung steht auf Github bereit. Die Plattform dürfte allerdings vor allem IT-affinen Menschen ein Begriff sein. 

Worauf es rechtlich ankommt

Entscheider, die in ihrem Unternehmen auf das Holacracy-Modell umstellen wollen, sollten sich den Schritt gut überlegen. Die Veränderungen der Organisation sind komplex. Unternehmen müssen etwa rechtliche Aspekte beachten, insbesondere in den Bereichen Obligationen- und Arbeitsrecht.

Nach dem Obligationenrecht trägt der Verwaltungsrat einer Firma die Verantwortung. Er kann gewisse Geschäfte gemäss Artikel 716a des Obligationenrechts auch nicht übertragen, wie Thomas Geiser erklärt, Professor für Privat- und Handelsrecht am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten der Universität St. Gallen.

Die Rolle des Verwaltungsrats im Holacracy-Modell

Die Mitglieder des Verwaltungsrats balancierten zwischen Vertrauen und Kontrolle, sagt Meissner von der Hochschule Luzern. «Ich kenne keinen einzigen Verwaltungsrat, der dem Modell Holacracy ohne Kontrollmechanismen zustimmen würde. Sonst liesse sich ein Verwaltungsrat auf ein Modell ein, das er nicht oder kaum kontrollieren könne. Die Aufgabe des Verwaltungsrats ist aber per se die Kontrolle. Zudem sind gewählte Verwaltungsräte eher konservativ.»

Scheuerer widerspricht: «Auch Verwaltungsräte können nach Holacracy arbeiten.» Anhand von Metriken und Checklisten können sie ebenfalls Kontrolle aufrechterhalten.

Für Geiser von der Uni St. Gallen dürfte Holacracy in kleineren Unternehmen relativ problemlos realisierbar sein. In grösseren Unternehmen könne aber vielleicht die Gefahr bestehen, dass der Verwaltungsrat die Übersicht verliere. «Dann geht er sicher ein gewisses Haftungsrisiko ein. Wie gross dieses ist, hängt aber in erster Linie von den möglichen Risiken ab und nicht von der rechtlichen Haftung.»

Doch wie sieht es mit der Haftung von Kadermitarbeitern, etwa dem Finanzchef, aus? Das sei kein reales Problem, gibt Geiser Entwarnung. «Es gibt – mit wenigen Sonderregeln, die sich im Steuerrecht und im Börsenrecht bei einer kotierten Gesellschaft finden können – gar keine besondere Haftung des Chief Financial Officers. Gegen aussen haftet ohnehin die juristische Person und nicht der handelnde Einzelne. Bei Delikten haftet die handelnde Person, unabhängig davon, ob es sich um den CEO oder jemand anderen handelt.» 

Leistungsdruck steigt

Im Modell der Holacracy erhalten Mitarbeiter Macht – gebunden an ihre Rolle. Diese Form des Empowerments könne auch eine «Zumutung» für Mitarbeiter werden, warnt Meissner. Da man immer mehr Verantwortung auf die kleinen Teams, im Holacracy-Modell Kreise genannt, verschiebe.

«Je kleiner die Einheit, desto grösser wird die Verantwortung. Das führt zu Unternehmertum im Betrieb.» Holacracy bringe mehr Agilität, sei aber auch mit hohem Leistungsdruck verbunden. Ohne gehe es nicht. «Diese Entwicklung sehen wir in der gesamten Wirtschaft», sagt Meissner. In der Schweiz sei dies Teil der Swissness. Dank der guten Ausbildungen und der hohen Verantwortung der einzelnen Mitarbeiter.

Leistungsdruck ist etwas, mit dem nicht alle Menschen gleich gut umgehen können. Motivationstiefs, Burn-out oder Mobbing sind die Schattenseiten. Spaltet am Ende Holacracy Teams eher, als dass sie die Mitarbeiter verbindet? «Das ist ein grosser Diskussionspunkt», meint Weibel. 

«Sonst müssten wir sofort die direkte Demokratie abschaffen»

Eine Herausforderung seien etwa die Rollen, die Mitarbeiter einnähmen, wie die Professorin anhand des Schuhherstellers Zappos erklärt. Dort stieg mit Einführung von Holacracy die Zahl an Rollen pro Person.

Hinter dem Modell steht die Idee, dass man etwa für eine Tätigkeit im Rahmen eines Projekts eine neue Rolle kreieren kann. Gibt es keine begründeten Einwände im Team, wird die neue Rolle geschaffen. «Im Schnitt haben Mitarbeiter 7,5 Rollen», erklärt Weibel.

Man müsse dann auch Prioritäten setzen können. «Das ist psychologisch anstrengend, hieraus könnte der Leistungsdruck entstehen. Man geht aber davon aus, dass Menschen in einer Holokratie besser leben als mit monotoner, vorgegebener Arbeit», betont die Professorin und fügt an: «Gerade in der Schweiz kann man Mitarbeitern viel Eigenverantwortung geben. Wenn man nicht glaubt, dass die Menschen Verantwortung übernehmen wollen, müssten wir sofort die direkte Demokratie abschaffen.»

 

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