Warum es sich nicht lohnt, gegen sein eigenes Gehirn anzukämpfen

Patrick Scheuerer

Der Glaube, dass persönliche Entwicklung darin liegt, seine Schwächen zu überwinden und vielleicht sogar zu stärken zu machen ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Bereits in der Erziehung werden Kinder oft von den Eltern ermuntert, Dinge immer wieder zu versuchen, auch wenn sich die Kinder schwer damit tun. In der Schule ist das klare Ziel, in möglichst allen Fächern gute Noten zu schreiben. Ein guter Schüler ist in allen Fächern gut, nicht nur ein paar spezifischen, so die Annahme. In der Arbeitswelt ist diese Grundannahme ebenfalls fest verwurzelt. So drehen sich in den meisten Unternehmen die Mitarbeitergespräche um Leistungsbeurteilung und Identifikation von Entwicklungspotential. Wobei das Entwicklungspotential in aller Regel auf die Schwächen abzielt.

Wenn wir uns doch alle auf die Schwächen konzentrieren muss das doch bestimmt einen guten Grund haben, oder?

Der Grund dafür, dass wir tendenziell negative Signale stärker bewerten als positive liegt in unserer Veranlagung: wir Menschen sind offenbar mit einem sehr sensiblen Sensor für Gefahren, Risiken und alle Arten von schädlichen oder bedrohlichen Ereignissen ausgestattet. Deshalb wirken negative Erfahrungen stärker als positive. Zu diesem Phänomen wurden zahlreiche Studien durchgeführt und es wird in der Psychology als „Negativity Bias“ bezeichnet, also soviel wie negative Verzerrung oder negative Neigung.

Diese Neigung macht aus evolutionärer Sicht durchaus Sinn: die Identifikation von Gefahren, Risiken und Problemen war für einen grossen Teil unserer Entwicklungsgeschichte überlebensnotwendig. Wenn wir keine Nahrung mehr haben, oder ein Säbelzahntiger vor der Höhle herum pirscht, dann sollten diese Bedrohungen höher gewichtet werden, als unser Bedürfnis nach sozialem Austausch, nach dem Erreichen von persönlichen Zielen oder gar Selbstverwirklichung.

Um die meisten Gefahren und Herausforderungen aus unserer frühen Entwicklungsgeschichte müssen wir uns heute zu Glück keine Sorgen mehr machen. Aber natürlich ist die Veranlagung heute immer noch da und sie kommt uns nicht selten in die Queue.

Welchen Nutzen bringt diese natürliche Veranlagung sich auf Probleme und Schwächen zu fokussieren?

Hilft uns unsere Stärken wohldosiert einzusetzen. Vielleicht hilft es uns auch ein bisschen dabei uns weniger Sorgen über die grossen und kleinen Probleme des Alltags zu machen, wenn wir wissen, dass unsere Veranlagung ohnehin dazu tendiert negative Signale stärker zu bewerten als positive. Dieses ständige Filtern nach möglichen Gefahren passiert automatisch und unbewusst. Und das Unterbewusstsein bietet dem Bewusstsein sowieso in regelmässige Abständen neue „Problem-Häppchen“. Wir haben aber in jedem dieser Fälle die Möglichkeit eine Wahl zu treffen: will ich mich jetzt wirklich bewusst mit diesem „Angebot“ auseinandersetzen, oder sage ich einfach freundlich aber bestimmt „Nein, vielen Dank. Jetzt gerade nicht.)

Mitte der 50er Jahre fand man in einer Studie (Glock, 1955) in der unterschiedliche Techniken zur Verbesserung der Lesegeschwindigkeit heraus, dass College Studenten die zu Beginn der Studie bereits am schnellsten lesen konnten, im Laufe der Studie mit Abstand die grössten Fortschritte machten (von 300 auf 2900 Wörter pro Minute!). Zwar verbesserten sich auch die zu Beginn langsamen Leser, aber der Fortschritt war deutlich geringer.

Wenn wir diese Erkenntnisse auf unser Schulsystem oder unsere Leistungsbeurteilungspraktiken in Unternehmen übertragen, merkt man schnell, dass unsere heutigen Ansätze diese Erkenntnisse weitgehend missachten. Der Fokus wird tendentiell immer stärker auf die schwachen Noten und die „Potentialfelder“ gerichtet. Also diejenigen Bereiche, wo es uns schwer fällt gute Leistungen zu bringen. Wir investieren dann grosse Energie, um ein bisschen weniger schlecht zu werden. Wir können durch Übung eine Schwäche zwar verbessern, aber zu Spitzenleistungen werden wir es in diesem Bereich kaum schaffen. Dieser Ansatz ist höchst allerdings sehr ineffizient, denn würden wir die gleiche Energie in die Weiterentwicklung unserer Stärken investieren, wäre unser „Returns on Investment“ deutlich grösser.

Unsere Talente und Stärken sind auf natürlich Weise wiederkehrende Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster. Diese Muster entstehen aufgrund einer bestimmten neuronalen Vernetzung in unserem Gehirn. Diese Vernetzung ist bei unserer Geburt schon vorhanden und beeinflusst stark, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen und bewerten. Unser Hirn kann seine Struktur verändern und immer neue Vernetzungen anlegen. Dieser Prozess kostet aber sehr viel mehr Energie, als bestehende Vernetzungen zu verwenden. Deshalb fühlt es sich auch anstrengend an und lässt uns ermüden, wenn wir neue Dinge lernen müssen.

Die Schlussfolgerung: wir machen sowohl wenn wir an unseren Schwächen arbeiten, wie auch wenn wir an unseren Stärken arbeiten Fortschritte. Beim gleichen Aufwand sind die Erträge bei den Stärken aber um ein vielfaches höher als bei den Schwächen.

Wertschätzende Erkundung zum Thema Engagement für eine gemeinsame Sache
Patrick Scheuerer